Do., 30.11.23 | 22:50 Uhr
Das Erste
Henry Kissinger – Nachruf auf eine Jahrhundert-Gestalt
Im Mai konnte er noch seinen 100. Geburtstag feiern – jetzt ist Henry Kissinger gestorben. Die Einschätzungen und der Rat des „Altmeisters der Diplomatie“ waren bis zuletzt gefragt. Beim Ukraine-Krieg empfahl er zunächst ein „realpolitisches“ Einlenken gegenüber Russland, um dann beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2023 für „harte Kante“ gegenüber Moskau und eine Aufnahme der Ukraine in die NATO zu werben. Im Juli reiste er noch einmal nach Peking und wurde von Staatschef Xi Jinping empfangen. Stephan Lamby zeichnet das Bild eines Politikers zwischen Macht und Moral, der ein Jahrhundert Weltpolitik miterlebte und gestaltete. Kissingers Rolle im Vietnam-Krieg und bei der Unterstützung südamerikanischer Militär-Diktaturen durch die USA sind bis heute umstritten.
Kissinger war ein mächtiger Mann. Als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister unter US-Präsident Richard M. Nixon, als Vertreter einer harten Realpolitik ebenso wie als Architekt der Entspannung im Kalten Krieg, als Wegbereiter für die Annäherung zwischen den USA und China und als Vermittler bei den Friedensbemühungen im Nahen Osten. Legendär war seine Pendeldiplomatie zwischen Kairo und Jerusalem. Obwohl er seit 1977 kein Regierungsamt mehr hatte, gehörte er zu den wichtigsten Beratern der US-Präsidenten Ronald Reagan und George W. Bush.
Der aus Fürth stammende Harvard-Professor kannte fast alle bedeutenden Staatsmänner der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts persönlich und war ein enger Freund von Helmut Schmidt. Henry Kissingers Rat bleibt gefragt, bis heute. Was seine eigene Vergangenheit betrifft, war er deutlich schweigsamer. Obwohl er 1973 den Friedensnobelpreis erhielt und in vielen Ländern als Polit-Star gefeiert wurde, verfolgten ihn lange Zeit schwere Vorwürfe: Welche Schuld trug Kissinger an der Eskalation des Vietnamkriegs? Welche Rolle spielte er Anfang er siebziger Jahre beim Putschversuch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende oder während der Militärdiktatur in Argentinien?
2007 gelang es dem renommierten Dokumentarfilmer Stephan Lamby, Kissinger zu seinem politischen Leben und Handeln zu befragen. Es wurde ein ungewöhnliches Gespräch über Macht und Moral. In dem aufwändig recherchierten Film kommen zudem zahlreiche hochkarätige Zeitzeugen zu Wort, darunter George W. Bush, Alexander Haig, James Schlesinger, Helmut Schmidt, Norman Mailer und Carl Bernstein. Der Film nutzt private Super 8-Aufnahmen und geheime Abhörbänder aus dem Oval Office - und bietet so einen ungewöhnlichen Einblick in das Weiße Haus der 70er Jahre. Die Geheimnisse der Supermacht USA – Bombardierungen, CIA-Aktionen, verdeckte Reisen zu feindlichen Regierungen, Abhörmaßnahmen gegen Mitarbeiter - erscheinen in einem neuen Licht, kommentiert von einem Mann, der im Zentrum der Macht stand: Henry Kissinger.
Autor: Stephan Lamby
Redaktion NDR: Dirk Neuhoff
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