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Mexiko: Gepeinigte Bürger greifen zu den Waffen

Bürger greifen zu den Waffen | Bild: NDR
Nachbarn sitzen zusammen. Sie vermissen Angehörige.
Eneida Lozano (Mitte) sitzt mit ihren Nachbarn zusammen. | Bild: NDR

Mit den Nachbarn saß Eneida Lozano früher nicht sehr oft zusammen. Heute sagt sie, sind es die Menschen, mit denen sie am meisten verbindet. Sie meint damit die Erinnerung und die Trauer um Familienmitglieder. Denn alle hier haben Partner, Sohn oder Tochter verloren. Sie wurden entführt und bis heute weiß keiner, was danach mit ihnen passiert ist.

Maria, die 15-jährige Tochter von Nati Castro verschwand am 15. Januar auf dem Weg von der Schule nach Hause. „Ich würde mir wünschen, dass ich einen Ort hätte an den ich gehen kann, an dem ich mit ihr sprechen kann und an dem ich eine Blume für sie liegen lassen kann“, sagt die verzweifelte Mutter.

"Wir haben Durst nach Gerechtigkeit"

"Du kannst in Mexiko hingehen, wo Du willst, es ist überall das Gleiche. Nur das die bewaffneten Banden der Entführer überall im Land unterschiedliche Namen tragen", erzählt Primitivo Urbano. Und Eneida Lozano fügt hinzu: "Wir haben solchen Durst nach Gerechtigkeit, Hunger nach Justiz, aber in diesem Land auf die Regierung zu warten, das hilft uns nicht weiter."

Am helllichten Tag verschleppt

Backstube in einem kleinen mexikanischen Ort.
Backstube in Ayutla. Hier wurde der Mann von Eneida Lozano verschleppt. | Bild: NDR

In Ayutla, einer Kleinstadt nahe der mexikanischen Pazifikküste, hat Eneida Lozano mit ihrem Mann Leo einige Tortilla-Bäckereien. Jetzt hält die junge Frau das Geschäft allein mit den Angestellten am Laufen. Vor sechs Monaten verschleppten Unbekannte ihren Mann am helllichten Tag aus der Backstube. Seit diesem Tag wartet Eneida auf ein Lebenszeichen.

"Die sind mit ihm mitten über den Markt gelaufen, obwohl da viele Leute unterwegs waren. Ich hab sie sogar selbst gesehen, sie kamen direkt an mir vorbei. Ich dachte das wäre sein Geleitschutz und sie gehen ins Rathaus, denn mein Mann sollte bald Bürgermeister werden."

Kein Vertrauen in die Polizei

Die Streife der staatlichen Polizei macht den Leuten eher Angst, als dass sie Schutz bietet. Es heißt, die Polizisten hielten selbst die Hand auf und deckten die Verbrecher. In vielen entlegenen Gebieten Mexikos blüht das Verbrechen und die Aufklärungsraten liegen nahe null. Auch die Bauern, die fast alle Schutzgeld an die kriminellen Banden zahlen müssen, halten die Angst nicht länger aus. Wer nicht zahlt, wird ermordet.

Kriminalität ist ein Gewerbe

Raymundo Nava arbeitet in einem genossenschaftlichen Betrieb. Allerdings nur noch halbtags, denn die Bauern verteidigen ihre Stadt seit Anfang des Jahres selbst. Trotzdem kommt es nachts zu Einbrüchen. "Es ist nicht mehr zum Aushalten. So sehr leiden wir hier unter der ständigen Bedrohung. Wir reden nicht von ein oder zwei Vorfällen, hier ist die Kriminalität alltäglich! Sie ist ein Gewerbe, ich verstehe sie als Industrie. Und wo das noch hinführen soll, das weiß kein Mensch", sagt Nava.

Flinten statt Feldarbeit

Also hat der Ort Ayutla aufgerüstet. Flinten statt Feldarbeit - es sind mehr als 1.500 Männer die mitmachen. Raymundo und seine Kollegen haben eine von Dutzenden Bürgerwehren in Mexiko gegründet. Sie patrouillieren und versuchen von den Leuten Informationen über Verbrecher zu bekommen. Raimundo der Landwirt ist jetzt Comandante.

Auch die Händler auf dem Markt leben in Angst vor den Schutzgelderpressern. Die Bürgerwehr will helfen, doch nicht alle haben Vertrauen zu der Truppe, stören sich an der Selbstjustiz, daran, dass jetzt noch mehr Mexikaner Waffen tragen und Gewalt mit Gewalt bekämpfen.

Macht der Bürgerwehren wächst

Bürgerwehr in Mexiko
Bürgerwehr in Mexiko.

Drei Tage nach unserem Interview zeigt das mexikanische Fernsehen Bilder, die zeigen, wie Raymundo mit hunderten Männern 12 Polizeibeamte und deren ehemaligen Chef festnimmt, sie sollen gemeinsame Sache mit Kriminellen gemacht haben. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines dreckigen Krieges jeder gegen jeden. Bei dem Polizisten, Kriminelle vor allem aber Unschuldige getötet werden. In fünf Bundesstaaten haben sich schon Bürgerwehren gegründet. Die Selbstjustiz, die in Mexiko auf dem Land früher Tradition war, wird unkontrollierbar.

Regierung toleriert Bürgerwehren

Viele Bauern, die ihre Dörfer verteidigen, vermummen sich aus Angst vor den Mörderbanden. Sie fühlen sich im Recht, weil der Staat als Beschützer versagt. Mexikos Regierung toleriert die Bürgerwehren, hat ihnen sogar Sonderrechte für die Festnahme von Verdächtigen und für den Waffenbesitz gegeben.

Die mordenden Banden zerstören die Gelassenheit eines ganzen Landes. Mexikos Opfer sind die Zeugen eines scheiternden Staates. Die Hinterbliebenen machen weiter, mit der Härte die Mexiko sie lehrt. Und mit der Hoffnung, den Mann, den Sohn, die Tochter doch noch einmal wiederzusehen, auch wenn die Hoffnung jedem Tag weniger wird

Autor: Peter Sonnenberg, ARD-Studio Mexiko City

Stand: 15.04.2014 11:24 Uhr

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