Anmerkungen von Dani Levy

Regisseur

Ruhe vor dem Sturm: Noch lauschen die Gäste gebannt dem Konzert. V.r: Alice Loving-Orelli (Sibylle Canonica), Franky Loving (Andri Schenardi), Walter Loving (Hans Hollmann), Elena Princip (Uygar Tamer).
Ruhe vor dem Sturm: Noch lauschen die Gäste gebannt dem Konzert.  | Bild: SRF / Hugofilm

»Am Anfang war die Idee, einen ganzen "Tatort" im Kulturund Kongresszentrum Luzern zu drehen. Der Fall würde während eines klassischen Konzertes stattfinden. Aber das KKL hatte nur ein knapp zehntägiges Fenster für die Dreharbeiten. Als ich das Angebot bekam, war ich sofort entzündet von der Idee der Einheit von Zeit und Ort. Ich schlug deshalb vor, den Einheitsgedanken noch radikaler zu fassen und den "Tatort" in einer Einstellung zu drehen. Seit Jahrzehnten sind Filmemacher fasziniert von dieser Idee. Schon Hitchcock experimentierte 1948 in "Rope" mit der Illusion des One-Shot. Da die Filmrollen damals jedoch nur maximal zehn Minuten Aufnahme erlaubten, musste er am Ende jeder Rolle tricksen. 2002 drehte Alexander Sokurov mit "Russian Arc" den ersten abendfüllenden Spielfilm in einer Einstellung. Durch die digitale Technik wurde möglich, was bisher nur gefakt war. Sebastian Schipper nutzte 2015 die neuen, wesentlich leichteren Digitalkameras, und so ist sein Film "Victoria" die bislang entfesseltste und radikalste Form eines One- Shots.

Als ich "Victoria" auf der Berlinale sah, war ich begeistert von dem starken Gefühl des "cinema verité". Auch ohne cineastisches Bewusstsein ist das Livehafte und Authentische spürbar. Der Zuschauer fühlt unbewusst, dass er nicht betrogen wird, zumindest nicht durch Schnitt, Weglassen, parallel Montieren oder Selektieren. Er ist sozusagen "mit" dabei, auf einer lückenlosen Reise durch eine Geschichte.

Im Gegensatz zu "Victoria" haben wir uns dafür entschieden, den "Tatort" nicht aus der Perspektive einer Hauptfigur zu erzählen, sondern perspektivisch zu reisen. Die Zuschauer wechseln die Seiten, gleiten von Täter zu Opfer, von Opfer zu Ermittler, von Ermittler zurück zu falschen Tätern. Der "Tatort" spielt nicht nur im KKL, auf der Bühne, Backstage, im Zuschauerraum, auf der Seeterrasse, sondern auch im Auto und im bevölkerten Bahnhof. Vergiftungen, Luftröhrenschnitt, Ermittlungen und Verfolgungen – alles passierte während dieses klassischen Konzertes.

Es reizte mich, für diesen Film auf meine erprobte und bewährte Arbeitsweise verzichten zu müssen und konträr zu arbeiten. Gleichzeitig kenne ich den Ablauf vom Theater: eine mehrwöchige Probenzeit auf Probebühnen, in diesem Fall mit Kamera und Ton, erste Durchlaufproben am realen Drehort, dann mit dem Orchester, bis hin zu Hauptproben, Generalprobe (immer noch ohne Statisten) – und der Premiere, beziehungsweise den vier geplanten Takes mit jeweils mehreren 100 Zuschauerinnen und Zuschauern.

Nach jedem Drehtag analysierten wir den gedrehten Film vom Vorabend; wir kritisierten, probten neu, kürzten und schrieben gegebenenfalls sogar um.

Ein großes Thema war auch die Gesamtlänge. Der "Tatort" hat eine klar definierte Länge von 88 Minuten – wir mussten also unseren Ablauf zeitlich kontrollierbar machen, das Tempo variieren und mit dem Drehbuch reagieren. Diese Art von Beweglichkeit war für mich auf jeden Fall eine gute Übung.

Ich schaute dem Ganzen aber auch aus einem anderen Grund mit großer Freude entgegen: Dreharbeiten sind oft so zermürbend langsam, unnatürlich kompliziert und umständlich. Hier aber versucht eine allmächtige Kontrolle, jeden Fehler zu vermeiden. Alle mussten sich durchkämpfen. Man konnte nicht abbrechen oder aufgeben, es galt die Unerbittlichkeit des Moments. Dieses Adrenalin wurde für uns alle etwas sehr Besonderes und hatte etwas Lehrreiches: Man kann Probleme auch mit laufender Kamera lösen.

Daran angekoppelt ein letzter Punkt und sicher eine der schönsten Aufgaben, die dieses Projekt uns stellte: die Idee des Ensembles. Ob kleine oder große Rollen, Kamera, Maske, Ton, Statisten, Kamerabühne und vor allem auch die komplexe Logistik von Regieassistenz und Aufnahmeleitung, alle arbeiteten Hand in Hand an diesen einzelnen Aufnahmen, wie ein vielbeiniges Getier, das nur dann vorwärtskommt, wenn alle Beine synchron in die gleiche Richtung gehen.«

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