Gespräch mit Ulrike Tscharre (Rolle Agnes Flemming)

Fühlt sich unverstanden: Agnes (Ulrike C. Tscharre [mit Roeland Wiesnekker])
Fühlt sich unverstanden: Agnes  | Bild: NDR / Sandra Hoever

Agnes Flemming

Für ihre Familie hat Agnes Flemming jahrelang alles gegeben. Nach dem Ende ihrer ersten Ehe muss die Patchworkfamilie mit Gregor unbedingt gelingen. Und Agnes hat Glück, Gregor ist ein lie - bevoller Mann, der alles für Agnes und die Kinder tut. Anders als bei ihrem befreundeten Ehepaar Conny und Bernhard, das sich ständig in den Haa - ren liegt, gibt es bei ihnen nie Streit.

Doch reicht das? Drei der Kinder sind schon ausgezogen. Agnes` ganze Aufmerksamkeit bekommt jetzt die gemeinsame Tochter, die 15-jährige Helena. Aber Agnes möchte mehr. Als sie anfängt, ehrenamtlich bei der „Tafel“ bedürfti - gen Menschen zu helfen, fühlen sich Helena und Gregor vernachlässigt.

Das kann doch nicht wahr sein, denkt Agnes. Sie begegnet Menschen, die wirklich Hilfe brauchen, und ihre Familie bringt keinerlei Verständnis für ihre neue Tätigkeit auf. Aber der geht das alles viel zu schnell. Jeder fühlt sich ungerecht behandelt. Keiner findet die richtigen Worte, um den Konflikt zu lösen. Ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustel - len, das macht Agnes nicht länger mit, und bald fragt sie sich: „Wo ist die Liebe hin?“.

Gespräch mit Ulrike Tscharre

Sie haben in den letzten Jahren oft starke, berufstätige Frauen gespielt, zum Beispiel eine Zielfahnderin oder eine Staatsanwäl - tin. Agnes Flemming aus „Wo ist die Liebe hin?“ verkörpert einen anderen Frauentyp, eine Mutter und Ehefrau, die lange in einer klassischen Rollenverteilung lebt. Warum war das interessant für Sie?

Familien – egal in welchem Gefüge – sind der Kern einer jeden Gesellschaft. Jede*r hat eigene Erfahrungen mit dem Thema und wurde dadurch geprägt. Für mich ist Agnes eine starke Frau, obwohl sie nicht den Fokus auch noch auf ihre berufliche Karriere legt. Mich ärgert immer dieses Hinabschauen auf Frauen, die „nur“ zu Hause sind, sich um die Kinder kümmern und nicht berufstätig sind oder nur Teilzeit arbeiten. Frauen wie Agnes leisten unheim - lich viel. Es ist schon eine enorme Aufgabe, Kinder, Familie und Haushalt zu stemmen. Und wenn Frauen dann auch noch arbeiten, bleibt trotzdem ein Großteil der häuslichen Arbeit an ihnen hängen.

Agnes und Gregor werden uns anfangs als glückliches Paar präsentiert, das sehr harmonisch miteinander umgeht. Ist das nur vorgeschoben?

Beide waren wirklich ein glückliches Paar, und Agnes hat sich in ihrer Ehe nicht zurückgesetzt gefühlt bis zu dem Zeitpunkt, wo sie die ehrenamtliche Tätigkeit aufnimmt. In dem Moment beginnt sie, den Fokus mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse zu richten, die sie jahrelang hintenangestellt hat. Durch diese Öffnung nach außen entwickelt sie eine große Entschlossenheit und entdeckt ihre Stärken, die sie nun bedürftigen Menschen zur Verfügung stellen möchte. Das Drehbuch erzählt diese Entwicklung sehr fein und differenziert. Die Zuschauer*innen können mit allen Figuren gut mitgehen und sich wiedererkennen. Wenn Menschen eine Familie aufbauen, sind sie oft sehr zentriert auf ihre eigene, kleine Welt, und irgendwann stellen sich die einzelnen Mitglieder der Familie die Frage: „Was habe ich Sinnvolles jenseits meiner eigenen Familie getan und will das Ich noch Teil von dem Wir sein?“.

Warum gerät das gesamte Familiengefüge dadurch ins Wanken?

Agnes erkennt durch die Arbeit bei der „Tafel“, wie privilegiert ihre eigene Familie lebt und wie viele Menschen es in diesem reichen Deutschland gibt, die jeden Pfennig umdrehen müssen. Da knallt sie dann mit ihrer pubertierenden Tochter Helena zusammen, der plötzlich nicht mehr alle Wünsche von den Lippen abgelesen werden. Aber vor allem ihr Mann Gregor fühlt sich zurückgesetzt, weil Agnes weniger Zeit für ihn hat. Durch diese minimale Verschiebung, als Agnes nicht mehr ausschließlich für ihre Familie da ist, beginnt alles zu bröckeln. Trotzdem verstehe ich auch Gregor und sehe, wie diesem großen, kräftigen, tollen, liebevollen Mann alle Felle wegschwimmen und er nicht weiß, wie er sich verhalten soll. Das Drehbuch erzählt sehr klug, wie durch kleine Veränderungen der Gewohnheiten innerhalb einer Beziehung Verlustängste hochkommen und Erwartungen enttäuscht werden.

Gespiegelt werden die Flemmings durch ihr Freundespaar Conny und Bernhard, das seine Konflikte offen austrägt, daran aber nicht zerbricht. Welche Rolle spielen die beiden für den Film?

Der Film erzählt über das Paar Conny und Bernhard, dass es auch konträre Beziehungsmodelle gibt, in denen viel Reibung und Auseinandersetzung stattfindet. Agnes und Gregor sind Streit und Konflikte überhaupt nicht gewohnt. Sie haben keinerlei Werkzeug im Umgang mit Krisen entwickelt, weil es nicht vonnöten war, mit Spannungen umzugehen. Wenn Menschen Spannungen nicht kennen, können sie diese direkt als existenzielle Bedrohung empfinden.

Ist das Familienmodel, von dem in „Wo ist die Liebe hin?“ erzählt wird, tatsächlich noch ein zeitgemäßes Szenario?

„Wo ist die Liebe hin?“ erzählt sehr schön über Erschütterungen, die in allen Beziehungsmodellen vorkommen. Trotzdem ist die klassische Rollenverteilung ja noch immer die Realität für Frauen in Deutschland. Wenn man sich das Frauenbild in den Filmen der 50er-Jahre anschaut, schmeißt man sich weg vor Lachen, aber wir sind gar nicht so viel weitergekommen. Es gibt wenig verheiratete Frauen mit Kindern, die selbstbestimmt leben und einfach ihr Ding machen. Heute versorgen Frauen immer noch ihre Familie, müssen gut aussehen, dürfen sich nicht gehenlassen und zusätzlich arbeiten sie auch noch. Die Aufgaben für Frauen sind über die Jahre also nur noch größer geworden. Es ist nach wie vor skandalös, wie wenig sich verändert hat.

Nochmal zur Titelfrage „Wo ist die Liebe hin?“ Warum verschwindet die Liebe so oft?

Der Film erzählt sehr gegenwärtig, wie derdiedas Einzelne sich mit der Frage auseinandersetzen muss, will ich noch Teil des Ganzen sein und wenn ja, wie? Oft passieren ja Konflikte und darauffolgende Trennungen nicht, weil sich die Paare nicht mehr lieben, sondern weil sie plötzlich was ganz anderes vom Leben wollen, was derdiedas Andere gar nicht will. Wir sind noch immer so geeicht, dass wir den Beziehungsmodellen folgen, ohne dass wir überhaupt wissen, ob diese für uns gut und richtig sind. Ich sehe in vielen Beziehungen immer wieder ein Erwachen über die Jahre, bei dem ganz klar gefragt wird: Will ich das noch? Bin ich das noch?

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