So., 08.10.23 | 23:55 Uhr
Das Erste
Endlich zu sehen! – Verschobene Retrospektive von Philip Guston in der Tate Modern
"See great art from around the world", so titelt die Tate Modern in London. Doch wieviel Welt verträgt die Kunstwelt? Ist sie wirklich offen für alle? Keine Ausstellung hat diese Frage jüngst deutlicher gestellt, als diese: "Philip Guston Now". Unfreiwillig hat sie den Finger in eine tiefe Wunde gelegt. Im Jahr 2020 wurde die große Retrospektive des Malers Philip Guston von gleich vier Museen verschoben. Der Grund: Philip Guston hat in seinen Bildern symbolisch die weißen Kapuzen des berüchtigten Ku-Klux-Klans gemalt – als eine Reflexion über das Böse.
Übertriebene Vorsicht oder Cancel Culture? Die New Yorker Kunst-Expertin Laura Raicovich hat den Fall Guston mit Kollegen intensiv diskutiert. Sie stellt fest: "Wir müssen verstehen, dass Museen aus unserer Gesellschaft und ihren Strukturen heraus entstanden sind. Das heißt: struktureller Rassismus, Klasse, Geschlecht, alle Vorurteile spiegeln sich auch in diesen Institutionen wider, in ihren Inhalten und der Art, wie sie arbeiten."
Bilder die retraumatisierend wirken könnten
Drei Jahre verspätet ist diese Retrospektive jetzt in London zu sehen. Nachdem sie 2020 wegen Black Lives Matter vorsorglich on hold gesetzt wurde. Das vorrangig weiße Kuratorenteam war sich nicht sicher, wie die Welt reagieren würde auf Philip Gustons "vermummte Figuren", die an den Ku-Klux-Klan erinnern. Sie hätten "missverstanden" und schlimmstenfalls "retraumatisierend" wirken können.
Für Raicovich sind diese Bedenken berechtigt: "Natürlich gab es einen Aufschrei, nachdem das verkündet wurde. Es gab Pros und Cons, und die Angst, etwas falsch zu machen, war und ist groß. Aber wenn wir wirklich etwas verändern wollen in Richtung Vielfalt und Gleichberechtigung, dann müssen wir uns angreifbar machen können, Fehler zulassen, und dann Kritik standhalten, egal woher sie kommt."
Kuratoren im Politischen Feld
Die Kunstexpertin Laura Raicovich befürwortet den Aufschub. Ihrer Meinung nach müssen sich Museen auf unsere diverse Welt einlassen. Hauptsache sie tun es: jetzt endlich, nicht bevormundend. Und idealerweise geben sich die Kuratoren dabei so sensibel und verwundbar wie Künstler auch: "Die Ausstellungsverschiebung war fast eine Rettungsinsel für uns, um darüber nachzudenken: was bedeutet es, sich zu verändern!? Guston ist so interessant, weil er genau dazu immer wieder den Mut hatte. Obwohl er bereits als abstrakter Maler etabliert war, konnte er sich noch mal völlig anderen Stilen öffnen. Diese Fähigkeit zur Veränderung, diese Bereitschaft, Opfer zu bringen, das hat uns inspiriert."
Ob diese klassisch gemachte Ausstellung wirklich der Stein der Kuratierungsweisen ist, sei dahin gestellt. Sie tut, was sie tun muss, ganz ohne Triggerwarnung. Und präsentiert Philip Guston als politischen Künstler, der Zeit seines Lebens wunde Punkte berührte. Weil er selbst viele Narben in sich trägt - als Sohn verarmter Immigranten, als geborener Goldstein, der sich aus Angst vor Antisemitismus lieber Guston nennt.
Hat es den Falschen getroffen?
Es sei wichtig zu verstehen, wie Guston sein Verhältnis zur Welt und ihren Ungerechtigkeiten ausdrückt, sagt MIchael Wellen, Kurator der Tate Modern: "Und die Kapuzenfigur ist dabei ein wichtiges Symbol für ihn. Eine Form für das, was das Böse und die Politik der späten 1960er Jahre für ihn darstellt. Und was ihn eigentlich schon in den 30ern beschäftigte."
Und was sagt der Künstler selbst über seine Kapuzenmänner? "Ich nahm damit ein Motiv wieder auf, das ich in sehr frühen Zeichnungen behandelt hatte, die Kapuzenmänner, Aber ich hatte nicht die Absicht eine Ku-Klux-Klan-Geschichte zu erzählen. Ich benutze sie als Symbol für Alles - der Krieg, die politischen Verträge, der Zustand der Welt, alles. Ich glaube nicht, dass das auf Amerika beschränkt ist. Ich meine die Gewalt in der Welt. Jeder, jeder einzelne erfährt sie."
"Jeder sollte sich das angucken"
Philip Guston hat mehrere Kriege und Kultur-Kämpfe im letzten Jahrhundert erlebt. Hat seine Emotionen dazu auf der Leinwand sichtbar gemacht. Vor allem figürlich und nicht mehr abstrakt, wie es in den 60ern Mode war. Er hat allen den Spiegel vorgehalten - der Welt, wie der Kunstwelt. Damit machte er sich unbeliebt, brach mit den Konventionen des weißen Establishments. Auch deswegen ist es erstaunlich, dass ausgerechnet seine Werke fast gecancelt worden wären.
So sieht das auch die Besucherin Caley Stennet: "Es ist das, was wir jetzt sehen müssen. Es schade, aber verständlich, dass die Ausstellung verschoben wurde. Jetzt kann jeder diese großartige Kunst sehen, vor allem wir Jungen. Aktivismus ist uns wichtig. Wir wollen etwas verändern. Und Guston ist alls das, worum es uns geht. Jeder sollte sich das angucken, die Texte lesen und verstehen, was Guston damals gemacht hat, wie es mit unserer heutigen Zeit zusammenhängt und was wir jetzt tun können!"
Zum Social Media Team der Tate gehören viele junge, diverse Menschen, die Guston einfach feiern und überhaupt gar nicht problematisch finden. Was lernt ein Museum daraus? Keine Angst vor den vermeintlich Anderen. Und erst recht nicht vor der Kunst!
Stand: 09.10.2023 22:49 Uhr
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