So., 15.10.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Israel: Leben im Kriegszustand
Ein Land im Ausnahmezustand, eine Gesellschaft unter Schock. Der Überfall der Hamas hat das Leben in ganz Israel von einem Tag auf den anderen radikal verändert.
Der Arzt schläft im Büro
Dr. Lobel beginnt gleich seinen täglichen Krankenhausrundgang. Heute gab es noch keinen Raketenbeschuss der Hamas. In der Notaufnahme ist es deshalb noch ruhig. Unklar nur, wie lange noch. "Nervös bin ich nicht. Ein wenig angespannt. Der Adrenalinpegel ist hoch und er fällt nie ab. Wir sind immer bereit. Wir wissen nicht, wann die nächsten Verwundeten reinkommen, und wir wissen nicht, wann die nächste Welle an Verletzen reinkommt." In der vergangenen Woche wurden Hunderte hier eingeliefert, einem der größten Krankenhäuser in der Nähe des Gazastreifens. Auch gestern. Verwundet von einem Raketenangriff.
Seit einer Woche schläft er hier. Tagsüber ist sein Schlafraum ein Büro. Nach Hause kann er nicht mehr. Seine Gemeinde Netiv Ha'asara, direkt am Grenzzaun zu Gaza, wurde von der Hamas überrannt. "Wir haben eine Nachricht bekommen, dass Hamas unser Dorf eingenommen hat und wir im Bunker bleiben, alle Türen absperren sollen. Und wer eine Waffe hat, soll bereit sein zu kämpfen. Ich habe keine Waffe. Ich bin Mediziner." Nach 13 Stunden werden sie von der israelischen Armee befreit. Mehr als 20 seiner Nachbarn wurden getötet. Seine Gemeinde evakuiert. Dr. Lobel fährt direkt zu seinem Krankenhaus. Arbeitet seit einer Woche durch. In fünf Minuten beginnt seine Morgenrunde, er will checken, ob das Personal etwas braucht. "Wir versuchen vor allem sie emotional zu unterstützen." Viele Mitarbeitenden arbeiten seit Tagen durch. Dazu kommt die Angst vor Raketen, der nächsten Welle an Verletzten.
Die Wohnung wird zur Sandwichfabrik
Die Solidarität in ganz Israel ist groß. Freiwillige versorgen die Krankenhäuser seit Tagen mit Essen und Snacks. Eine von ihnen: Avavit. "Ich hab mein Haus zu einer Sandwichfabrik umfunktioniert. Wir machen Sandwiches und Salate und bringen es denen, die es brauchen. Familien der Verwundeten und dem Krankenhauspersonal und Ärzten, die unglaubliche Arbeitsschichten von teilweise 36 Stunden haben." Avivit ist eigentlich Chefköchin und besitzt ein Restaurant in Tel Aviv, das, wie die meisten Restaurants zur Zeit, geschlossen ist. Jetzt managt sie dutzende Freiwillige, um Essen vorzubereiten.
Plötzlich ein Anruf. "Kann jemand T-Shirts, Unterhemden und Socken für Reservisten besorgen? Und ich brauche eine Box mit 50 Sandwiches und 50 Salaten. Und wenn ihr es schafft: ich würde gerne Briefe dazu packen."
Ein Team – gut getaktet und aufeinander abgestimmt. Nur manchmal kommen sie aus dem Tritt…. "Wir haben gerade rausgefunden, dass eine unserer Freundinnen auf dem Festival war", sagt Or Herman. "Sie haben ihre Leiche gefunden. Gestern Nacht und wir haben es gerade mitbekommen. Alle sind etwas aufgewühlt." Die gemeinsame Arbeit hier, in Avivits selbsternannter Sandwichfabrik, macht die Situation für viele erträglicher. Auch für Or, die täglich mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern hier aushilft. "Das hier hilft. Du machst was und sitzt nicht nur rum und denkst darüber nach."
Warten auf den nächsten Angriff, auf neue Verwundete
Trotz allem, was Dr. Lobel erlebt hat, organisiert er jetzt die Krisensituation im Krankenhaus – behandelt also nicht selbst Patienten, sondern schaut, dass die Abläufe funktionieren. Shosh, die Oberschwester begleitet ihn bei seinem Rundgang. "Das ist der sicherste Bereich im Krankenhaus. Es ist ein Untergrundkrankenhaus. "Acht Stunden hat das Personal gebraucht, 50 Prozent der Patienten in das Untergrundkrankenhaus zu verlegen. Wer im Schutzraum keinen Platz findet, ist nicht sicher. "Wie geht’s dir?" – "Ok. Soweit es halt geht" – "Kommst du mit dem Krankenhaustransport hier her?" –
"Nein, mit meinem Auto. Ich renne schnell ins Auto vom Auto zum Gebäude."
"Die Leute hier sind emotional am Anschlag", sagt Dr. Lobel. "Solange wir uns als Team um andere kümmern, geht’s uns ok. Problematisch wird es, wenn wir Zeit haben uns auszuruhen." Dr. Lobel besucht täglich mehrfach seinen Nachbarn, der letzten Samstag nicht so viel Glück hatte wie er. "Er wurde in beide Beine geschossen. Er ist hingefallen. Das hat sein Leben gerettet, weil sie dachten er sei tot. Sie sind über ihn hinweggestiegen ins Haus und haben drei Familienmitglieder getötet." Ende des Rundgangs. Soweit alles gut. Und noch immer keine Raketen. "Es ist zu ruhig. Eine Atmosphäre des Wartens, darauf was kommt. Das bedeutet viele Verletzte, viel Schmerz, viel Trauer – und wir hatten genug davon die letzten Tage. Mehr als genug." Gerade als wir das Krankenhaus verlassen wollen, gehen die Sirenen los. Für die Mitarbeiter des Krankenhauses ist damit der ungewöhnlich ruhige Morgen vorbei.
Autorin: Hanna Resch, ARD-Studio Tel Aviv
Der Weltspiegel-Podcast beschäftigt sich auch mit Israel. Ein Gesprächspartner ist der israelische Historiker Moshe Zimmermann. Moderation: Joana Jäschke Redaktion: Steffi Fetz
Stand: 15.10.2023 22:24 Uhr
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