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Russland: Von der Polizei zur Opposition

Russland: Von der Polizei zur Opposition | Bild: WDR

Spät am Abend in Moskau, Februar dieses Jahres. Wir filmen das Mahnmal für den ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemtsow, es ist der Vorabend seines sechsten Todestags. Ein junger Mann fällt uns auf, er wirkt wie ein Tourist. Er kommt aus der Stadt Iwanowo, erzählt er. Und: er hat gerade sein Leben auf den Kopf gestellt: "Ich war Polizist. Und ich habe jetzt gekündigt. Wegen der Verurteilung von Aleksej Nawalny."

Aus politischen Gründen kündigen, und offen darüber reden: dazu gehört Mut. Hat er keine Angst? "Man kann doch nicht immer nur Angst haben. Boris Nemtsow hatte keine Angst, Nawalny hat auch keine. Alle müssen verstehen, dass es auf jeden ankommt, dass jeder von uns Verantwortung hat für das Land", entgegnet der Ex-Polizist, Sergej.

Sergej verurteilt das Auftreten der Polizei

Ein paar Wochen darauf besuchen wir Sergej in seiner Heimat Iwanowo. Eine Industriestadt, fünf Autostunden östlich von Moskau. Sergej hat hier Jura studiert, ging gleich danach zur Polizei. Ein nachdenklicher junger Mann. Andere werden Arzt, weil sie helfen wollen, sagt er. Oder gehen zur Feuerwehr. Ich wollte immer schon das Unrecht bekämpfen.

Sergej ist 28. Fünf Jahre war er Polizist, hätte dort mit seinem Studium Karriere machen können. Er lebt jetzt erstmal von Ersparnissen. Und er bloggt, bei Youtube und Instagram. Seine Kündigung hat er online angekündigt, noch in Uniform, am Tag des Urteils gegen Nawalny.

Er habe schon länger Zweifel gehabt, sagt Sergej. Das Urteil sei ein letzter Tropfen gewesen – und das harte Vorgehen der Polizei bei den Demos. Sergej kennt auch dieses Video: "Da tritt in St. Petersburg ein Polizist eine Frau nieder. Und er bekommt nicht mal ein Verfahren, sie haben ihn nicht entlassen. Ich will nicht mehr Teil dieses Systems sein. Ich würde mich schämen für die Gewalt, auch wenn ich selbst nicht dabei gewesen wäre."

In der Opposition steht Sergej nun der Polizei gegenüber

Im März ist Sergej auf dem Weg nach Moskau. Zum Seminar für angehende Lokalpolitiker und Politikerinnen, organisiert von einer Bürgerrechtsgruppe. Leute von überallher, die jetzt in die Politik wollen. Wie Sergej. Auf dem Podium prominente Oppositionelle.

Nach nicht mal einer halben Stunde stürmt die Polizei die Versammlung, nimmt jede und jeden fest. Einen trifft es mitten in unserem Interview. "Natürlich ist Opposition ein Risiko. Aber es geht um Russlands Zukunft", sagt Ilja Jaschin. Auch Sergej wird festgenommen, zum ersten Mal in seinem Leben. Er wird noch am selben Tag wieder freikommen – und später zu einer Geldstrafe verurteilt werden.

Im April sind wir wieder in Iwanowo. Sergej filmt für seinen Blog. Auch hier demonstrieren sie jetzt für Nawalny. Eine Minderheit – wie überall in Russland. "Ach, wegen Nawalny stehen die da? Den kenne ich. Das ist ein schlechter Mensch. Alle sagen das", sagt ein*e Passant*in. Für Nawalny zu sein, dazu gehört auch in Iwanowo Mut. Dutzende werden festgenommen. Auch Sergej, obwohl er nur filmt, landet später auf der Wache. Er wird wieder ein Verfahren bekommen. Es sei ein bitteres Gefühl gewesen, den Kollegen von früher zu begegnen, erzählt er uns später: "Auf dem Platz habe ich viele Bekannte gesehen. Wir haben nicht gesprochen, sie hatten die Augen auf den Boden gerichtet. Aber erkannt habe ich sie."

Die meisten seiner früheren Kollegen verstünden ihn ohnehin nicht, sagt Sergej. Sie interessierten sich nicht für Politik. So, wie eben die Mehrheit der Menschen im Land. In ganz Russland sind drei Fälle von Polizisten bekannt, die wegen der jüngsten Ereignisse und der Gewalt gegen Demonstrant*innen gekündigt haben.

Autorin: Ina Ruck / ARD Studio Moskau

Stand: 06.07.2021 13:13 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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