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Jemen: Ein Land zerfällt

Jemen: Ein Land zerfällt | Bild: ARD

Das Telefon ist immer griffbereit. Die Familie im Jemen könnte ja anrufen. Waleed und seine Freunde studieren in Kairo, Finanzwissenschaften und Politik. Neuigkeiten von Zuhause. Waleeds Vater war am Telefon. Alles in Ordnung daheim, die Bombenangriffe sind weit weg.

"Wir machen uns dauernd Sorgen"

Waleed
Waleed und seine Freunde aus dem Jemen studieren in Kairo. | Bild: NDR

"Vergangene Nacht haben die Kämpfe das Viertel erreicht, wo meine Familie lebt", berichtet Aisa. "Sie sagen nur - es ist alles okay bei uns." "Meine Familie versucht, alles vor mir zu verheimlichen, damit ich mir keine Sorgen machen,“ sagt Said. "Sie bleiben die ganze Zeit im Keller, erzählt Waleed, falls irgendwo in der Nähe etwas einschlägt. Facebook, Internet, arabische Nachrichten. Wir können uns auf nichts mehr konzentrieren", sagt Waleed. "Wir können nicht zurück - es gibt keine Flüge, nichts."

Und die Familien wollen auch gar nicht, dass sie kommen. Es sei viel zu gefährlich. "Wir machen uns dauernd Sorgen, wissen nicht, was als nächstes passiert. Dauernd Bomben oder Flugzeugangriffe. Und wir wissen nicht, wo es als nächstes einschlägt.

Jemens Hauptsadt unter Beschuss

Ein Mann blickt in Sanaa aus einem zerstörten Haus
Zerstörung in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa. | Bild: picture alliance / dpa

In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa gab es in den letzten Tagen mehr Luftangriffe als je zuvor, berichten Anwohner. Die Koalition unter saudischer Führung greife militärische Ziele an, Camps und Versorgungsrouten der Aufständischen, Konvois mit Waffen, Panzer, Raketen-Abschussanlagen. So heißt es offiziell. Ein moderner, ein präziser, ein sauberer Krieg.

Die Realität in Sanaa sieht anders aus. Die Koalition attackiert auch Tanklastwagen. "Das Flugzeug hat uns beschossen. Und die ganzen Menschen sind verbrannt", sagt ein Junge. "Wir verurteilen diese Verbrechen Saudi-Arabiens. Aber wir sind eine Nation, die Märtyrer liebt."

Gesundheitssytem ist heillos überfordert

Opfermut und verlassene Krankenhausflure. Viele Ärzte und Pfleger kamen aus dem Ausland und sind geflohen. Jemens Gesundheitssytem ist heillos überfordert. "Wir haben hier vor allem Patienten mit Brandwunden, jede Menge. Bei uns im Krankenhaus ist die einzige Abteilung für Brandverletzungen und plastische Chirurgie im Jemen, deshalb kommen die meisten Verwundeten zu uns. Jeden Tag 10 bis13 Opfer", berichtet Nasr El Gadessi, Direktor des republikanischen Krankenhaus.

Mindestens 770 Menschen sind seit Beginn der Offensive gestorben. Die Hälfte davon sind Zivilisten. Und in Sanaa gibt es noch nicht einmal Bodenkämpfe, wie anderswo im Land. Der Stadt steht das Schlimmste vielleicht erst noch bevor. Die Bilder aus Sanaa und Umgebung hat unser jemenitisches Team gemacht, ausländische Korrespondenten dürfen zurzeit nicht in den Jemen einreisen.

"Am Ende werden wir siegen"

Auf dem Weg Richtung Norden, wo uneingeschränkt die Houthi-Rebellen herrschen. Viele Stadtbewohner habe sich aus Sanaa in umliegende Dörfer in Sicherheit gebracht. Aber auch hier schlagen Bomben ein. In einem Massengrab liegen neun Mitglieder einer einzigen Familie . "Die Amerikaner und die Israelis profitieren von dem Ganzen", sagt Mahdi Al-Okayshi. "Die geben doch in allen arabischen Staaten schon den Ton an, nur im Jemen nicht. Aber am Ende werden wir siegen!“

Die Houthi-Ideologie ist stramm anti-amerikanisch und anti-israelisch, und so sind die vermeintlich Schuldigen schnell gefunden. Die Jemeniten verstehen den Konflikt doch auch nicht, sagen die drei Studenten. Und so vertiefen sich im Land gerade die Risse. - "Es gibt keinen Weg zurück. Das Land wird immer tiefer gespalten. Die Menschen wollen nichts mehr miteinander zu tun haben, wenn sie unterschiedlichen Konfessionen angehören – Schiiten oder Sunniten sind. Oder wer aus dem Norden kommt, der wird im Süden nicht mehr akzeptiert – und andersrum", sagt Waleed.

Zu spät für Dialog und Schlichtung

Von Luftangriffen zerstörtes Auto im Jemen.
Von Luftangriffen zerstörtes Auto im Jemen. | Bild: picture alliance / dpa

Eine Zukunft für sich selbst in ihrer Heimat sehen die drei Studenten derzeit nicht. Uns geht es gut in Ägypten, sagen sie, wir haben Stipendien und sind finanziell einigermaßen abgesichert. Viele Jemeniten leben in diesem Kairoer Viertel, es gibt jede Menge jemenitische Restaurants. Aber es ist eben nur fast wie zu Hause, sagen die drei. Eigentlich wollen sie irgendwann wieder heim. Wie es im Jemen weitergehen wird - Waleed, der Politikstudent, ist eher pessimistisch: "Traditionell werden bei uns Probleme eher durch Verhandlungen gelöst, Kampf ist immer nur das letzte Mittel. Aber leider ist es jetzt zu spät für Dialog und Schlichtung ."

"Jeden Tag fragt uns wer, worum es im Jemen wirklich geht", sagen die drei. Und sie wissen keine Antwort. Aber eines sei klar, betonen sie: Die Bomben der arabischen Koalition hätten eine ohnehin schon verfahrene Situation noch schlimmer gemacht.

Autor: Volker Schwenck, ARD-Studio Kairo

Stand: 19.04.2015 20:28 Uhr

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