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Brasilien: Durch das Putzen von Gräbern zum Internet-Star

Brasilien: Durch das Putzen von Gräbern zum Internet-Star | Bild: NDR

Mit ihrem klapprigen Handwagen ziehen Jaqueline Alves und ihre Mutter Debora de Oliveira jeden Tag los. Arbeitsbeginn an einem Ort, den andere meist meiden. Jaqueline und Debora sind Putzfrauen auf dem Friedhof. Sozusagen gute Geister unter unzähligen Toten. "Ich habe vor zwölf Jahren hier angefangen. Damals war ich 13. Ich musste mithelfen, weil meine Oma zu alt für diese Arbeit geworden war und meine Mutter plötzlich krank wurde", erzählt Jaqueline Alves.

"Zeige meinen Friedhofs-Alltag"

Zwei Frauen mit einem Handkarren auf einem Friedhof.
Auf dem Friedhof verdienen die beiden Frauen umgerechnet 120 Euro im Monat. | Bild: NDR

Messingschilder und gerahmte Fotos der Verblichenen – alles wird geschrubbt, gereinigt und später poliert. Und das mit Liebe zum Detail. Jaqueline übernimmt die schwierigen, anstrengenderen Tätigkeiten, weil ihre Mutter Debora seit zwölf Jahren mit einem künstlichen Darmausgang leben muss. "Die Ärzte sagen, ich darf keine schweren Tätigkeiten ausüben. Dank der Hilfe meiner Tochter und dank Gott geht es irgendwie", sagt Debora de Oliveira.

Vor zwei Jahren hatte Jaqueline dann ein Idee, die viel für sie verändert hat: Das Handy auf eine Grabplatte gestellt, hat sie sich bei der Arbeit aufgenommen und anschließend alles bei Instagram hochgeladen: "Anfangs habe ich nur ein paar Fotos gepostet, später auch Videos. Da fragten mich viele Leute im Netz, was ich hier tue. Seitdem zeige ich meinen Friedhofs-Alltag."

In der einen Hand die Kamera, in der anderen der Lappen. Nebenbei erklärt Jaqueline, was sie verdient: pro Grab umgerechnet fünf Euro im Monat. "Oft fragen mich Leute, ob ich schon mal was Übernatürliches gesehen habe, zum Beispiel Geister oder afrikanische Götter. Die denken, dass es hier auf dem Friedhof spukt." Phantome oder Dämonen hat Jaqueline – zumindest bislang – auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt Marilia im Hinterland von São Paulo nicht bemerkt. Zuletzt aber immer mehr Beerdigungen, Trauer und Leid während der Corona-Pandemie. Der Friedhof musste sogar vergrößert werden. "Das war außergewöhnlich und ist so traurig. So viele Familien mussten Corona-Opfer begraben", sagt Jaqueline Alves.

Kaum Verdienst in der Pandemie

Eina Frau putzt die Messingschilder auf einem Grabstein.
Jaqueline Alves übernimmt die schwierigen, anstrengenderen Tätigkeiten. | Bild: NDR

Auf die Friedhofsmauer hat jemand gesprüht: "Weg mit Bolsonaro". Auch Jaqueline sieht das Pandemie-Management von Brasiliens Staatschef kritisch. Dieser habe zu spät Impfstoffe gekauft und das Virus immer wieder verharmlost. Es sei ein Glück, sagt sie, dass ihre Großeltern die Erkrankung heil überstanden hätten. Oma Teresa ist 85, Opa Valdevino stolze 93. Das Familienoberhaupt lebte jahrzehntelang vom Recyceln von Altmetall, Glas und Dosen. Jetzt – im hohen Alter – ist er zunehmend auf die Hilfe seiner Enkelin angewiesen: "Jaqueline ist spitze. Sie hilft uns, wann immer wir sie brauchen. Ihre Handyvideos dagegen verstehe ich nicht. Ich telefoniere lediglich mit so einem Apparat. Ich kann ja sowieso nicht lesen. Sie schreibt da all die Buchstaben rein – wie soll ich das denn kapieren?!"

Nebenan lebt Jaqueline mit ihrer Mutter in einem kleinen Mietshaus. Der Vater, ein Alkoholiker, ist früh an einer Leberzirrhose gestorben. Seitdem schlagen sich die beiden Frauen durch. Auf dem Friedhof verdienen sie umgerechnet 120 Euro im Monat. Nur zwischendurch, zur schlimmsten Zeit der Corona-Krise, war das anders, erinnert sich Debora de Oliveira: "Leider haben wir während der Pandemie kaum mehr etwas verdient. Die meisten Leute hatten ihre Zahlungen einfach eingestellt. Andere wiederrum haben uns nicht im Stich gelassen und stets weitergezahlt."

Jaqueline Alves hat Tausende Follower

Dann hängt Jaqueline wieder an ihrem Handy, setzt Sternchen und Schriften in ihre neuste Instagram-Story. Damit kann sie sich stundenlang beschäftigen. Ihr ungewöhnlicher Arbeitsplatz und wohl auch ihre offene Art haben Jaqueline Tausende Follower beschert. Doch bei Instagram geht es ihr nicht nur um reine Selbstdarstellung, sondern sie sammelt damit auch Gelder für ihre kranke Mutter Debora: "Unser Traum ist, dass wir mithilfe von Spenden meiner Mutter die nötige Operation finanzieren können. Damit man ihr den künstlichen Darmausgang entfernt. Das würde ihre schwierige Lage verbessern." Seit fünf Jahren wartet Debora auf einen OP-Termin.

Irgendwann will Jaqueline nicht mehr mit dem Handwagen zum Friedhof ziehen müssen. Irgendwann wolle sie studieren. Zumindest sei das ihr persönlicher Traum. Bis dahin will sie weiter berichten – vom Alltag als guter Geist auf dem Friedhof.

Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro

Stand: 12.09.2021 20:25 Uhr

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