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Brasilien: Milizen übernehmen die Vorstädte

Brasilien: Milizen übernehmen die Vorstädte | Bild: SWR

Sie eint ihre Vergangenheit. Ex-Militärs und Ex-Polizisten, militärisch ausgebildet und gut organisiert, übernehmen immer größere Teile von Rio de Janeiro. Die Drogen-Banden, die bisher das Sagen in den Favelas hatten, werden vertrieben. Ihr Geschäftsfeld übernehmen die Milizen. Neben Drogenhandel erpressen sie Schutzgeld – auch von den Ärmsten. Bauspekulation gehört auch zu ihren Geschäften. Zu stoppen sind die mafiaähnlichen Milizen kaum, denn ihre Verbindungen gehen bis in die Politik. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Kriminelle Milizen vertreiben Drogenbanden

Kriminelle Milizionäre terrorisieren Rio de Janeiro. Erpressen Schutzgeld. Und erobern Stadtviertel um Stadtviertel rund um den Zuckerhut. "Die Milizen töten ihre Gegner und verscharren sie in Massengräbern, um keine Aufmerksamkeit zu erregen", sagt Staatsanwältin Simone Sibilio. In Rio sind jugendliche Drogengangs immer öfter auf dem Rückzug. Weil militärisch ausgebildete Milizionäre sie vertreiben. Diese beherrschen immer mehr Stadtviertel – von außen kaum sichtbar.

Stadtansicht Rio de Janeiro
Die Milizen kontrollieren schon große Teile Rio de Janeiros | Bild: SWR

Irgendwo in Rio treffen wir eine Frau, die im Herrschaftsbereich einer Miliz lebt. Seit anderthalb Jahren, seit eine hochgerüstete militärisch organisierte Gruppe ihre Nachbarschaft mit Waffengewalt unter Kontrolle gebracht hat. Aus Angst will die Putzfrau anonym bleiben. "Sie kommen von Haus zu Haus und fordern Geld. Wir haben anfangs gefragt, was das soll. Dann wurde uns gedroht. Sie fordern Schutzgeld von Geschäften wie Apotheken und Supermärkten. Sogar von den Kindergärten." In Sichtweite des Olympiaparks liegt eine ihrer Hochburgen. Dieses Armenviertel wird von der Miliz "Büro des Verbrechens" beherrscht. Sogar die Ärmsten müssen Schutzgeld zahlen, bestätigt die Putzfrau. In ihrem Fall umgerechnet 18 Euro im Monat. Viel Geld für sie. "Es ist unmöglich, in diesem Viertel in Ruhe zu leben. Wer sich ihnen widersetzt, den bringen sie um. Ich habe große Angst – vor allem nachts."

Verbindungen bis in die Politik

So betreiben die Milizen ihr kriminelles Geschäft: Sie erpressen Schutzgeld, erheben Gebühren auf Gasflaschen und Fernsehanschlüsse. Und kassieren ab beim Transport in den Vierteln. Der Soziologe José Claudio Alves erforscht seit Jahrzehnten die Machenschaften und den Ursprung von Rios Milizen. "Sie sind in den 60er Jahren entstanden – in der Zeit der Militärdiktatur. Es begann mit Polizisten, die in ihrer Freizeit als Todes-Schwadron umherzogen. Sie wurden von Unternehmern aus der Region für das Ermorden ihrer Widersacher bezahlt. Die Politik-Elite zur Zeit der Diktatur hat mit denen unter einer Decke gesteckt." Seitdem wechseln immer wieder Polizisten oder Feuerwehrleute ins kriminelle Milieu. Und tauchen unter.

Beschlagnahmte Waffen
Die Auseinandersetzungen werden immer brutaler geführt | Bild: SWR

Tödlich enden kann es auch für Politiker, die sich dem kriminellen Kartell in den Weg stellen. Eine davon war Marielle Franco. Sie wurde 2018 in ihrem Auto erschossen. Die Ermittler gehen davon aus, dass Milizen die Täter sind. Der Mord an Marielle Franco hatte in Rio Wut und Fassungslosigkeit ausgelöst. Ronnie Lessa, den mutmaßlichen Todesschützen nahmen die Fahnder 2019 fest. Seitdem laufen die Ermittlungen. Ein seltener Erfolg. Laut Staatsanwaltschaft soll er der Miliz "Büro des Verbrechens" angehören.

Auftraggeber und Drahtzieher laut Ermittlern: der Milizen-Chef Adriano da Nóbrega. Dieser war kein Unbekannter für Flavio Bolsonaro, den Sohn des Präsidenten Jair Bolsonaro. Denn die Frau und die Mutter des Milizen-Chefs waren jahrelang Angestellte im Parlaments-Büro des Präsidentensohns. Staatsanwälte und brasilianische Medien haben diese Zusammenhänge nachgewiesen. Auch deshalb wird gegen Flavio Bolsonaro wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Präsident Bolsonaro persönlich hatte den Milizen-Chef Nóbrega vor dem Mord mehrfach öffentlich gelobt. Außerdem erstaunt die Ermittler eine Verbindung zwischen dem Präsidenten und dem Todesschützen: Er wohnte bis zum Mord in dieser Wohnanlage als direkter Nachbar von Jair Bolsonaro. Der bestreitet, mit Milizionären in Verbindung zu stehen. "Es gibt keine Verbindung zwischen mir und den Milizen", behauptet Jair Bolsonaro, Präsident Brasiliens. "Adriano da Nóbrega habe ich 2005 kennengelernt und seitdem nie wieder Kontakt mit ihm gehabt." Der Soziologe Alves hat Zweifel an dieser Aussage. "Präsident Bolsonaro hatte früher als Abgeordneter, Milizionäre wie Adriano da Nóbrega mehrfach öffentlich geehrt. Das waren nicht die Worte eines Ignoranten oder eines Ahnungslosen. Nein. Bolsonaro wusste sehr wohl, welche Verbindungen diese Männer mit dem organisierten Verbrechen hatten."

Die Polizei ist selten erfolgreich

Rund um den Zuckerhut haben die Milizen ihr Machtgebiet rasant vergrößert. Waren sie vor 20 Jahren nur im Westen der Stadt sind sie längst in den Osten vorgerückt und vertreiben dort jugendliche Drogenbanden. Die militärisch ausgebildeten Milizen sind in der Hälfte von Rio präsent. Der Staat hat das Problem erkannt. Der Erfolg aber ist gering. Hintermänner gehen nur selten ins Netz. Rios Staatsanwältin klagt: Die Milizen gingen als Mörder und Kopfgeld-Jäger immer brutaler vor. "Heute erleben wir eine extreme Zunahme der Gewalt durch Milizen", erklärt Staatsanwältin Simone Sibilio. "Anders als früher töten sie ihre Gegner immer rücksichtsloser in den Vierteln, in denen sie präsent sind."

Fahndungsplakat
Fahndungserfolge sind selten | Bild: SWR

Was die Milizen zusammenhält ist ihre kriminelle Energie, ihre Bruderschaft als ehemalige Polizisten und: Profitgier. Im Westen Rios haben Milizen Häuser in ein Naturschutzgebiet gebaut. Das illegale Geschäft mit Immobilien ist ein wichtiger Teil des kriminellen Treibens. "Sie kennen die Kontrolleure der Stadtverwaltung", sagt Milizen-Experte José Claudio Alves. Die Milizen müssen keine Strafen fürchten, weil sie die Polizei unterwandert haben. Sie kontrollieren die Polizei." Ihre kriminellen Immobiliengeschäfte können sogar Menschenleben kosten. Ein Wohnblock, der ohne Genehmigung gebaut wurde, stürzte 2018 ein. Die Milizionäre hatten beim Bau offenbar gepfuscht. 24 Menschen starben. In Rio sind die Milizen längst eine Art Staat im Staate. Ihren Machtanspruch setzen sie in immer mehr Stadtvierteln durch. Mit dramatischen Folgen für viele Menschen, die im Schatten des Zuckerhuts leben.

Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Rio de Janeiro

Stand: 11.04.2021 21:34 Uhr

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