Lena Stahl, Peter Dommaschk und Ralf Leuther

Karin Gorniak (re, Karin Hanczewski) versichert ihrer Kollegin Leonie Winkler (li, Cornelia Gröschel) dass sie den Täter finden werden.
Karin Gorniak versichert ihrer Kollegin Leonie Winkler dass sie den Täter finden werden. | Bild: MDR

Frau Stahl, nach Ihrem preisgekrönten Spielfilm-Debut „Mein Sohn“ setzen Sie hier Ihren ersten „Tatort“ in Szene. Wie haben Sie den Einstieg in dieses Format erlebt?

Lena Stahl: Wenn man zum „Tatort“ kommt, dann ist es ein bisschen so, als würde man in ein Haus kommen, in dem schon Leute leben. Man kommt quasi als neuer Mitbewohner für eine gewisse Zeit dazu. Deswegen war es für mich essenziell, erst mal zu hören, wie die Schauspielerinnen und Schauspieler zu ihren Figuren stehen, die sie ja schon so lange begleiten. Was haben sie schon erlebt, wo können wir gemeinsam ansetzen, wo einen Schritt weiter gehen, oder mal anders denken.

Als bei der Tatverdächtigen Sarah Monet K.o.-Tropfen im Blut festgestellt werden, gibt das dem Fall eine unerwartete Wendung. Das Thema K.o.-Tropfen hat zuletzt viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Zu Recht?

Lena Stahl: Natürlich zu Recht – leider!  Es ist grauenhaft, was diesen Frauen widerfährt, wie viele dieser Fälle es gibt und wie selten es zu einer Verurteilung der Täter kommt, da die Strafverfolgung extrem schwierig ist. Was mich besonders getroffen hat, ist der Zusammenhang, dass die Opfer quasi nicht anwesend sind bei der Tat, die an ihnen verbrochen wird. Du kannst dich nicht wehren, du kannst danach nicht Zeugin sein, erinnerst dich vielleicht tatsächlich an nichts. Aber es gibt eine körperliche Erinnerung bei den Frauen, schwere Traumata, die bis hin zur Suizidalität führen können.

Ralf Leuther: Sexualisierte Gewalt im vorsätzlichen Kontext mit K.o.-Tropfen ist nicht nur in der Clubkultur, sondern insgesamt im öffentlichen Raum zu einem so gravierenden Problem geworden, dass wir dies schon länger unbedingt im geeigneten fiktionalen Rahmen thematisieren wollten. Der erzählerisch mutige Dresdner „Tatort“ erschien uns hierfür als ideales Format, um vor allem die katastrophalen seelischen Konsequenzen begreifbar zu machen.

Würden Sie sagen, „Was ihr nicht seht“ ist ein Frauen-Film? Auch in Bezug auf die starken Frauenfiguren, die hier vollkommen unverschuldet zu Opfern werden?

Lena Stahl: Ich persönlich mag solche Kategorisierungen nicht. Was ich sagen kann, ist, dass dieser Film starke und dreidimensionale Frauenfiguren ins Zentrum stellt, weil er ihre Geschichte erzählt. Was die männlichen Figuren nicht weniger wichtig und spannend macht. Ich finde es interessant, dass 2023 das Frau-Mann-Gefüge explizit thematisiert wird, wenn es einmal zentral um Frauenfiguren und ihre Perspektiven geht. Es gibt unzählige „Männer-Tatorte“, bei denen man niemals darauf käme, das besprechen zu müssen. Das Dresdner Team ist dahingehend vielleicht „modern" und nicht umsonst bei einer jüngeren Zielgruppe sehr beliebt. Außerdem standen bei diesem Film auch hinter der Kamera Frauen in entscheidenden Positionen. Neben mir die Produzentin Nanni Erben, die Producerin Philine Zebralla und nicht zuletzt die Redaktionsleiterin beim MDR, Johanna Kraus.

Peter Dommaschk: Oft, vielleicht zu oft, gilt in Filmen über Verbrechen das vorrangige erzählerische Interesse den (zumeist) männlichen Tätern, deren Taten ebenso abstoßen wie faszinieren. Hier nun war uns wichtig, den (zumeist weiblichen) Opfern maximalen dramaturgischen Raum zu bieten – Verunsicherung und Verstörung inklusive.

Ralf Leuther: „Frauenfilm“ wäre – auch wenn die weiblichen Charaktere die Handlung dominieren – zu kurz gegriffen. Es ist ein Film über einen unsichtbaren Krieg, den Männer gegen Frauen führen, mitten unter uns – und der nur enden kann, wenn alle hinsehen.

Wie gehen die beiden Kommissarinnen mit dem Fall um? Für Leonie Winkler hat der Fall ja auch eine ganz persönliche Komponente …

Lena Stahl: Die Geschichte, die wir erzählen, behandelt einen Fall, der für die Kommissarin Leonie Winkler auch sehr ins Private überschwappt. Sie wird in eine Situation katapultiert, in der sie sich in ihrer Position als Polizistin, aber auch als Frau neu verhalten muss. Das hat Auswirkungen auf das gesamte Ermittlerteam, dessen Zusammenhalt auf die Probe gestellt wird. In dem Moment, in dem Winkler sich aus privaten Gründen unprofessionell verhält, wird Karin Gorniaks Integrität als Kollegin stark herausgefordert. Peter Michael Schnabel wiederum muss sich gegenüber dem Staatsanwalt verantworten, als er sich schützend vor Winkler und Gorniak stellt.

In dem Film stehen die männlichen Figuren, zum Beispiel das Mordopfer, eher im Hintergrund. Der Film nimmt konsequent die Perspektive der Frauen ein – der Kommissarinnen und die Sarah Monets. Ist sexuelle Gewalt ein „Frauen-Thema“!?

Lena Stahl: Da sexualisierte Gewalt fast ausschließlich von Männern verübt wird, sollte man eher sagen, dass sie ein Männer-Thema ist. Gewalt gegen Frauen ist in meinen Augen leider ein vom System nicht ausreichend bekämpftes Problem und damit vor allem ein gesellschaftliches. Es geht in diesem Film nicht um das Mordopfer, sondern um die Tatsache, dass wir es mit Sarah Monet mit einer Figur zu tun haben, die Opfer und Täterin zugleich ist, was auch dramaturgisch spannend ist. Darüber hinaus wird der Fall für die Kommissarin Leonie Winkler persönlicher als andere Fälle, was ihre Perspektive natürlich wichtig macht. Martin Brambachs Peter Michael Schnabel oder die von uns neu eingeführte Figur des Staatsanwalts, Jakob Klasen (gespielt von Timur Isik), halten es aber aus, nicht im Mittelpunkt der Geschichte zu stehen, ohne deshalb an Dimension oder Klasse zu verlieren. Sie sind für die Geschichte ebenso wichtig.

„Was ihr nicht seht“ enthält Sequenzen, die für viele Frauen sicherlich bedrückend und beängstigend sind. Wie sind Sie als Regisseurin an die Szenen herangegangen?

Lena Stahl: Niemand kommt gerne auf ein Set und dreht eine Szene, die mit Missbrauch zu tun hat. Das ist ein wahnsinnig sensibler Teil unserer Arbeit, sowohl vor als auch hinter der Kamera und betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. Ich habe mit einer Intimacy-Koordinatorin gearbeitet, die jede Szene sowohl mit den Darstellerinnen und Darsteller allein als auch mit mir gemeinsam durchgesprochen und erarbeitet hat. Hier wurden klare Grenzen abgesteckt und auch ein Codewort festgelegt, falls es jemandem zu viel wurde. Außerdem wurden diese Szenen als „closed set“ gedreht, was bedeutet, dass nur ich, der Kameramann und maximal sein Assistent im Raum waren, während gedreht wurde. Mir war extrem wichtig, dass jeder sich auf dem Set sicher fühlt, vor allem natürlich meine Darstellerinnen. Aber auch für Felix Vogel, der den Täter spielt, war dieser Teil des Drehs sehr herausfordernd. Ich hatte ein wunderbares Team, das diesen Schutzraum zu jeder Zeit vollkommen ernst genommen und gewahrt hat.

Harter Stoff. Warum sollte man diesen Film unbedingt schauen?

Peter Dommaschk: Weil es kein Betroffenheitsfilm ist, der Frauen in der Opferrolle verharren lässt, sondern ein ambivalenter Krimi, der auf unberechenbare Wege abbiegt, verstört, erschreckt, berührt. Was ist wirklich geschehen? Können weitere Opfer verhindert werden? Endet der Film in einer noch größeren Katastrophe? Dranbleiben lohnt sich.

Lena Stahl: Wie schon gesagt, behandelt dieser Film ein leider sehr aktuelles Thema. Ein Thema, vor dem wir die Augen nicht verschließen dürfen, im Gegenteil. Frauen, die Opfer von Übergriffen unter K.o.-Tropfen werden, haben kaum eine Chance auf Strafverfolgung. Die Beweislage ist oft dünn und das Gerichtsverfahren schwierig. Erst 2019 hat der Bundestag das Strafprozessrecht reformiert. Dadurch sollen die Aussage von Opfern und die Beweisaufnahme erleichtert werden, zumindest ein erster Schritt. Wir haben als Filmemacherinnen und Filmemacher auch in der Filmakademie aktuell oft darüber gesprochen, wie wichtig unsere Stimme als Spiegel der Wirklichkeit ist. Wir können und dürfen in einer Gesellschaft nicht die Augen vor harten Themen verschließen. Insofern hoffe ich, dass unser Film einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, die Opfer nicht zu ignorieren. Abgesehen davon haben wir nicht nur eine sehr emotionale Geschichte, sondern auch einen äußerst spannenden Thriller gemacht, der visuell sehr besonders ist und Kaspar Kaven eine Nominierung für den Deutschen Kamerapreis eingebracht hat.

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