Gespräch mit Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein

Falke (Wotan Wilke Möhring) macht sich Sorgen um Marija (Tatiana Nekrasov).
Falke macht sich Sorgen um Marija. | Bild: NDR

Ihr "Tatort" beginnt wie ein klassischer Polizeifilm, der minutiös eine Zugriffsaktion schildert. Woher kennen Sie sich so gut mit Polizeiarbeit aus?

Die Idee für die Geschichte ist bei einem Besuch bei der Bundespolizei entstanden. Ich war als Beobachter zu Gast in der Hamburger Zentrale, um mir ein Bild von der Ermittlungsarbeit zu machen. Dort wurde ich Zeuge einer groß angelegten Zugriffsaktion gegen deutsch-russische Schleuser. Sie vermittelten Scheinehen für arabische und asiatische Millionäre mit Migrationsabsichten nach Europa. Die Eheschließungen fanden immer in bestimmten Gemeinden in Dänemark statt, wo man in Abwesenheit getraut werden konnte und die EU-Aufenthaltskarte erhielt. Es war ein florierendes Geschäftsmodell. An dem grenzübergreifenden Zugriff waren dann mehrere Gruppen der Bundespolizei und auch Kollegen aus anderen europäischen Ländern beteiligt. Die eine flog mit Hubschraubern nach Westerland auf Sylt zum Hauptbeschuldigten, die andere nahm zeitgleich im Hamburger Büro eine Komplizin fest, damit sie keine Beweismittel vernichtet. Es war eine Riesenkoordination erforderlich. Diesen Einsatz habe ich mir als Vorbild genommen.

Wie kam dann die russisch-ukrainische Mafia ins Spiel?

Die Bundespolizei hat auch gegen einen libanesischen Clan in Lüneburg ermittelt. Aber seit der Serie "4 Blocks" gibt es für mich im Fernsehen schon zu viele dieser bärtigen arabischen Kriminellen, die in tiefer gelegten BMWs durch die Straßen cruisen. Dann las ich in der Zeitung über die Geschäfte, die einige „War-Lords“ mit von der russischen Regierung gelieferten Waffen betrieben haben. Ich sponn dann die Geschichte weiter: Wie würde das Regime von Wladimir Putin reagieren, wenn herauskommt, dass mit seiner Militärhilfe ein schwungvoller Handel in Drittländer aufgezogen wird? Der Kreml steht nicht erst seit den Giftanschlägen von Salisbury und London oder der Ermordung eines Tschetschenen in Berlin im Verdacht, gegen seine Feinde auch im Ausland äußerst skrupellos vorzugehen. Bei diesen Attentaten ging es nie darum, sie still und heimlich auszuführen, im Gegenteil, alle, die sich gegen Russland stellen, sollen kapieren: Moskau lässt sich das nicht gefallen. Aber das ist natürlich nur die Schlusspointe, die aber die Geschichte erdet.

Der Pate spielt Schostakowitsch am Klavier, seine Dandysohn zitiert Tolstoi. Warum ist in dieser Familie jeder so hoch gebildet?

Bei der Russenmafia denkt man schnell an kahl rasierte, aufgepumpte Muskelprotze. Gegen dieses Klischee haben wir bewusst die Intellektualität der Familie herausgestellt. Russland ist ein uralter Teil des europäischen Kulturraums. Das gerät manchmal etwas ins Hintertreffen. Im Grunde handelt es sich um eine Tschechow-Familie, die in sich total zerrüttet ist. Das Oberhaupt, Victor Timofejew, hat die Frau seines Bruders erobert, der sich danach das Leben nahm. Dann adoptierte er seine Nichte Marija und seinen Neffen Nicolai, die er beide mehr liebt als den eigenen Sohn. Als ein emanzipatorischer Akt gegen ihre Familie und ihre Herkunft wechselt Marija die Seiten und steigt beim LKA zur Kommissarin auf. Sie tut gewissermaßen Buße für die Verbrechen ihres Onkels. Man sieht sie im Einsatz, und sie geht echt weit.

Julia Grosz leitet gegen den Waffenschieber ihren ersten Einsatz. Wie schlägt sich die Kommissarin?

Sie strahlt eine enorme Nervosität aus, wie ich sie auch in der Zentrale der Bundespolizei beobachten konnte. In unserem Film passiert etwas, womit niemand rechnen konnte. Grosz entgleitet die Kontrolle. Sie verliert den Boden unter den Füßen. Ihr Partner Falke findet schließlich heraus, da ist noch ein anderer, viel größerer Player im Spiel. Damit wird der Fall so monströs, dass sie als Bundespolizisten komplett überfordert sind. Es war mir wichtig zu zeigen, wie erschrocken und sprachlos die Kommissare darüber sind, was sie mit ihrem Einsatz ausgelöst haben. Unser Berater bei der Bundespolizei hat mir erklärt, dass man eine Zugriffsaktion nur in Maßen planen kann. Man muss das Unmögliche denken. Im Grunde könnte der Film auch Kontrollverlust heißen.

Grosz hat nun den gleichen Dienstgrad wie Falke. Welche Folgen hat ihre Beförderung für das Verhältnis der beiden Kommissare?

Als ihr zum ersten Mal die Einsatzleitung übertragen wird, sagt Falke so PCmäßig, er finde es in Ordnung, dass jetzt mal eine Frau die Chance kriegt. Ich unterstütze sie. Aber in dem Moment, in dem die ersten Schwierigkeiten auftauchen, zeigt er sich dann weniger solidarisch. Dieser Konflikt gewinnt im Verlauf des Films an Dynamik, bis zu dem Augenblick, als sie gemeinsam den Verrat einer Kollegin aufdecken. Das bringt sie wieder zusammen.

In der Besetzungsliste ihrer jüngeren Filme findet sich immer wieder ein Name: Tatiana Nekrasov.

Beim NDR war eine große Bereitschaft zu spüren, nicht immer nur die Stars zu besetzen, sondern neue Gesichter zu finden wie Tatiana Nekrasov oder Jakub Gierszał, der in Polen sehr populär ist. Darüber war ich sehr froh. Tatiana habe ich 2017 entdeckt, als sie eine Minirolle in meinem "Tatort: Dunkle Zeit" mit Franziska und Wotan spielte. Über die Jahre wurden ihre Rollen in meinen Filmen wie "Die Auferstehung" oder "Beethoven" immer größer. Diesmal hatte ich sie beim Schreiben als Idealbild der LKA-Ermittlerin Marija vor Augen, nicht nur weil Tatiana Halbrussin ist. Sie strahlt eine besondere Aura aus und hat den Touch der Globalität.

Wie hat sich Corona auf Ihre Arbeit an diesem "Tatort" ausgewirkt?

Dieser Film ist quasi entvölkert. Ich musste das Drehbuch noch einmal umschreiben, den Showdown verändern und dabei auf Komparsen weitestgehend verzichten. In der ersten Fassung hat es noch eine große Jagdgesellschaft bei einer Herbstjagd gegeben. Ich habe die Geschichte verdichtet und stark auf die Figuren konzentriert, was ihr im Grunde ganz gut getan hat. Sie bekommt fast den Charakter eines Kammerspiels. Wir haben dann viel "on location" gedreht, zum Beispiel an der neuen S-Bahn-Station Elbbrücken. Der Bahnhof sieht sehr futuristisch aus, er wirkt irgendwie aus der Zeit gefallen, sodass man plötzlich in so einer Leere steckt. Dieser Effekt ist mir durch Corona geschenkt worden.

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