Gespräch mit Stefan Krohmer (Regie) und Florian Oeller (Drehbuch)

Schlimme Nachrichten für Emma (Paraschiva Dragus) und Pflegemutter Jule (Susanne Bormann, rechts)
Schlimme Nachrichten für Emma und Pflegemutter Jule  | Bild: NDR / Christine Schroeder

Gespräch mit Stefan Krohmer (Regie) und Florian Oeller (Drehbuch)

Herr Oeller, von Ihnen stammt auch das Buch zum Rostocker „Polizeiruf 110: Sabine“. Da geht es um eine Mutter in prekären Verhältnissen. Hier bewegen wir uns in einem anderen Milieu. Worum geht es?

Florian Oeller: Schwierige Familienverhältnisse waren auch hier der Antrieb, nur dass es hier um den Horror einer speziellen Mittelschicht geht, eine Art von Vorstadthölle, in der unterschiedliche Lebensziele und Lebensenttäuschungen aufeinanderprallen. Die Situation, in der sich das Ehepaar Genth wiederfindet, fand ich dramaturgisch spannend: Die beiden haben vor Jahren zwei Pflegekinder aufgenommen, Emma und Max, weil sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, was eigentlich der größte Wunsch von Jule Genth war. Und in dem Moment, wo sich dieser Lebenstraum verspätet doch noch erfüllt, kommt es zu fatalen Komplikationen, die letztlich zu einem Verbrechen und zum Auseinanderbrechen der Familie führen.

Herr Krohmer, was hat Sie als Regisseur an dem Stoff interessiert?

Stefan Krohmer: Es gab zwei Aspekte, die mich gereizt haben. Das eine war die Welt, in der das Verbrechen passiert. Diese Vorstadthölle, die Florian da aufmacht. Ein Paar, das, als es überrascht feststellt, doch noch ein leibliches Kind zu erwarten, das Leben mit seinen Pflegekindern für beendet erklärt. Diese schräge Familie, deren inneres System man gemeinsam mit König erstmal durchdringen muss, weil sich dahinter vielleicht die Lösung für den Fall versteckt. Zum anderen fand ich es originell, wie hier die neue Kollegin eingeführt wird. Dass sie zufällig einen direkten Bezug zu den Verdächtigen hat und deswegen in Rostock aufschlägt. Nicht etwa, weil sie ihre neue Dienststelle antritt. Das erzeugt sofort eine interessante Dynamik zwischen den beiden Ermittlerinnen und definiert ja auch den zukünftigen Umgang der beiden miteinander.

Melly Böwe, die wir in „Sabine“ als Bukows Halbschwester kennengelernt haben, tritt der Profilerin hier überraschend als autark funktionierende Figur gegenüber.

SK: Absolut. Melly grätscht König erst einmal ungefragt in ihre Ermittlungen und wird dann ja auch noch von Königs Vorgesetztem Röder unterstützt, als die sich bei ihm darüber beschwert. Damit beginnt die Beziehung der beiden nicht besonders harmonisch – aber durchaus spannend.

Hatten Sie Gestaltungfreiheit, was Melly anging, Herr Oeller?

FO: In die Figurenschöpfung sind sehr viele Impulse seitens der Redaktion und der Produktion eingeflossen. Und natürlich gab es Vorgespräche mit Lina Beckmann. Mir war wichtig, dass es für Melly Böwe einen sehr konkreten Anlass gibt, in Königs Welt einzubrechen und dass dieser Anlass einen starken emotionalen Bezug zum Fall hat. Am Anfang stand die Idee: Was ist, wenn König in einer laufenden Ermittlung auf einmal vor Melly steht, die – ohne eine auf den ersten Blick sichtbare Legitimation – Anspruch erhebt, Teil dieses Falls zu sein? Wir wollten also sofort in eine Reibung zwischen den beiden Ermittlerinnen gehen. Für mich geht das in Stefans Inszenierung auch total auf: In der Begegnung zwischen den beiden Frauen entsteht etwas komplett Neues. Obwohl die Rostock-DNA in diesem Film ganz und gar vorhanden ist und obwohl es natürlich die Wehmut von König gibt, Bukow verloren zu haben, entsteht da etwas sehr Neues. Und es ist so gespielt, dass ich nicht das Gefühl hatte, ich bleibe am Alten hängen, sondern ich möchte wissen, wie es mit den beiden weitergeht.

Um auf den Fall zurückzukommen: Die alleinerziehende Rike Sommer wurde ermordet, ihr hilfloser Sohn starb anschließend, weil er sich selbst überlassen war. Eine grausige Tat. Wie kamen Sie auf dieses Szenario?

FO: Ich wollte die Kälte thematisieren, die eintritt, wenn man selbst sein Leben lang viel zu wenig Wärme gespürt hat. Bei dieser Täterfigur geht es nicht um Psychopathologie, nicht um Wahnsinn, sondern um eine Persönlichkeit, die nie um ihrer selbst willen geliebt wurde. Sie ist ein Mensch, der gelernt hat: Wer etwas leistet und anderen eine Stütze ist, der wird gemocht. Eigentlich ist diese Figur die Verkörperung eines kapitalistischen Leistungsprinzips. Das fand ich interessant, und diesem Charakter gilt all mein Mitgefühl. Wer so früh darauf getrimmt wird, dass man Dinge tun muss, um gemocht zu werden, der ist eben am Schluss auch zu grausigen Taten fähig. Die eine Kälte bedingt die andere.

Auch wenn es am Schluss ein Geständnis gibt, bleiben die Ermittler – und mit ihnen die Zuschauer – mit der Frage zurück, wen eigentlich die Schuld an diesem Verbrechen trifft. Wie sehen Sie das?

SK: In dieser Affekttat kulminiert auf jeden Fall eine negative Energie, die sich in der von uns beschriebenen Welt nach und nach aufgebaut hat. In den Ausschnitten, die uns erzählt werden, bleibt vieles, was die Figuren tun, rätselhaft. Susanne Bormann und ich hatten schon die Vorstellung, dass die Figur der Jule hier, obwohl sie eher im Hintergrund agiert, in diesem Machtgefüge eine dominante Rolle spielt. Sie bringt etwas subtil Übergriffiges mit. Da das Kind, das sie erwartet, ihr Wunschkind ist, sehe ich sie auch als treibende Kraft hinter dem Abschied von den Pflegekindern. Sie kann das aber nicht offen zeigen, weil es an der glatten Oberfläche kratzt, die ihr so wichtig ist. Also schickt sie ihren Mann vor. Für mich ist das eine toxische Verbindung zwischen diesem Paar. Das sind schon schräge Leute. Und spätestens am Ende, in den langen Verhörszenen mit den Kindern, vermittelt sich, glaube ich, dass die Erwachsenen da tief mit drinhängen.

Ihr Film erzählt auf verschiedenen Ebenen von fragilen Familienkonstrukten. Zählt das Rostocker Kommissariat auch dazu?

FO: Unbedingt. Dieser Film hat auch sehr viel mit dem Kommissariat zu tun. Der Todesfall, der hier beschrieben wird, und die Entfernung der Pflegekinder aus der Familie Genth haben eine starke Parallele zu dem Verlust, den das Kommissariat mit dem Weggang von Bukow zu verkraften hat. Es ist eine Lücke entstanden, die es zu füllen gilt, und alle Beteiligten müssen sich mit dieser Lücke arrangieren. Die Ermittler müssen nun eine neue Welt gestalten, eine neue „Familie“ leben. Die Karten werden neu gemischt, und wie sich insbesondere auch an Pöschel zeigt, haben die Figuren sich weiterentwickelt im Laufe der letzten zwölf Jahre. Es wird spannend sein zu sehen, was jetzt passiert.

Wie haben Sie diese Übergangssituation im Kommissariat erlebt, Herr Krohmer?

SK: Als ich als Außenstehender in die Gruppe reinkam, hatte ich tatsächlich den Eindruck, dass da so ein familiäres Gefühl besteht. Somit konnte ich in diesem Kommissariat als Regisseur auch über etwas verfügen, was schon lebendig war. Du musst nicht erst etwas befeuern und lebendig machen, sondern fängst auf einem relativ hohen Niveau an. Das findet fast dokumentarisch statt: Dieses Kommissariat gibt es, die Leute kennen sich untereinander, die Blicke, die Gesten, die Berührungen haben einfach erst einmal was Selbstverständliches, das ist super. Und dann sortiert sich das in diesem Fall eben neu, weil da diese Leerstelle ist, der leere Tisch im Hintergrund, der sonst immer besetzt war von so einem wuchtigen Typen. Dass Bukows Platz jetzt leer bleibt, löst natürlich bei allen etwas aus.

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