So., 24.09.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Die Macht der Erinnerung
Evelyn Rolls Buch "Pericallosa"
Es gibt Momente, die teilen das Leben in ein Davor und Danach. Unwiderruflich. So einen Moment hat die Journalistin Evelyn Roll vor zwölf Jahren erlebt, als ein Aneurysma in ihrem Gehirn platzte. Sie musste notoperiert werden, überstand den schweren Eingriff am offenen Gehirn und bekam ein zweites Leben geschenkt. Welche tiefgreifenden Veränderungen das in ihr ausgelöst hat, beschreibt sie in ihrem Buch "Pericallosa. Eine deutsche Erinnerung", das jetzt im Droemer Verlag erschienen ist. ttt hat sie in Berlin getroffen.
"Als würde eine Kaugummiblase platzen"
"Pericallosa" ist der Fachausdruck für eines der arteriellen Hauptgefäße im Gehirn. Eine Blutung der Pericallosa aufgrund eines geplatzten Aneurysmas ist lebensbedrohlich. "Es war auf einmal in meinem Kopf so laut, als würde eine Kaugummiblase platzen, und es war ein furchtbarer Schmerz", sagt sie, "ich habe nachher mit einiger Befriedigung festgestellt, dass die Ärzte das 'Vernichtungskopfschmerz' nennen. Das beschreibt es ganz gut."
Damals stand Evelyn Roll auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie war eine der großen Journalistinnen der Süddeutschen Zeitung, bekannt für ihre legendären Reportagen und Autorin der ersten grundlegenden Biografie von Angela Merkel. Als sie mit einem Schlag aus ihrem alten Leben katapultiert wurde, hatte sie Glück im Unglück. Sie wurde von einem der besten Neurochirurgen der Berliner Charité behandelt und gehört zu den wenigen, die eine schwere Hirnblutung ohne wesentliche Beeinträchtigung überstehen.
Spurensuche in der Familiengeschichte
"Pericallosa" aber ist weit mehr als der Bericht von ihrer Erkrankung und ihrer Genesung. "Es ging im Grunde genommen ein Jahr lang danach nur darum: Alles soll wieder so werden, wie es war. Und dann ist eine Reihe von Dingen passiert, die mir klargemacht haben: Nee, nichts soll wieder so werden, wie es war." Sie denkt daran zurück, was sie im Krankenhaus bewegt hat. "Da sind mir einige Rätsel und Fragen und blinde Flecken und Lügen durch den Kopf gegangen. Und dann habe ich mich auch erinnert, dass ich mir eigentlich geschworen hatte auf dieser Intensivstation: Wenn du hier rauskommst, wirst du das alles herausfinden."
Evelyn Roll geht auf Spurensuche in ihrer Familiengeschichte, von der sie erschreckend wenig weiß und die sie doch bis heute prägt. Wie sehr waren ihre Großväter in den Nationalsozialismus verstrickt? Welche Rolle spielte ihr Vater als Wehrmachtssoldat im Krieg? "Man ist im Grunde genommen immer auf der Suche nach Entlastung. Aber das darf einen nicht davon abhalten, zur Kenntnis zu nehmen, wo es keine Entlastung gibt." Sie rekonstruiert, was sie als Kind gehört, aber jahrzehntelang verdrängt hatte: zum Beispiel die Beteiligung des Vaters an der Erschießung von Partisanen. Es ist eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit den ihr nahestehenden Menschen. "Interessanterweise führt das nicht dazu, dass man diese Menschen nicht mehr mag, sondern eher versteht, warum sie so waren, wie sie dann danach geworden sind, um mit dem klarzukommen."
Evelyn Roll erzählt auch von den Verdrängungen ihrer eigenen Generation, die im Wirtschaftswunderland aufwuchs und nur wenig von der Vergangenheit wissen wollte. Und sie verknüpft ihre Reflexionen mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung über das Erinnern und das biografische Gedächtnis. "Ich glaube, wenn das nicht passiert wäre, hätte ich mich nie in meinem Leben noch mal genau damit beschäftigt. Ich kann es mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ich überhaupt frei leben konnte, ohne diese Dinge zu klären. Und insofern kann ich diesem Monster, was da in meinem Kopf geplatzt ist, auch dankbar sein."
Buchtipp
Evelyn Roll: Pericallosa. Eine deutsche Erinnerung
Droemer Verlag 2023, Preis: 26 Euro
Autor des TV-Beitrags: Max Burk
Die komplette Sendung steht am 24. September ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 24.09.2023 18:33 Uhr
Kommentare