So., 18.02.24 | 23:40 Uhr
Reisen in den Krieg: Die Ukraine auf der Berlinale
Den Finger in die ukrainische Wunde legen zwei Dokumentarfilme: "Turn In The Wound" des amerikanischen Kult-Regisseurs Abel Ferrara und "A Bit Of A Stranger" der ukrainischen Filmemacherin Svitlana Lishchynska. Ferrara erkundet das Leben in der Ukraine seit dem russischen Überfall, montiert die Berichte über die Grauen des Krieges mit der Poesie von Patti Smith-Performances. Svitlana Lishchynska begibt sich dagegen auf eine Reise in die eigene Vergangenheit und Identität als russischsprachige Ukrainerin aus Mariupol.
"ttt" begleitet sie durch das Festival – und auch in die Weltpremiere von Ferraras Film.
"A Bit of a Stranger"
Ihre Heimat ist zerstört, die Folgen für sie und die Familie dramatisch. In ihrem Dokumentarfilm "A Bit of a Stranger" erzählt Filmemacherin Svitlana Lishchynska auf fast intime Weise vom Krieg. Geschockt sucht sie alte Filmaufnahmen heraus. Sie befragt ihre Mutter nach ihrer Herkunft, begleitet ihre Tochter, als diese mit ihrer Enkelin in Sicherheit flieht. Mariupol, ihre Heimatstadt, ist von den Russen besetzt. Die Bilder ihrer ausgelassenen Hochzeit lassen sie begreifen, dass sie selbst mit der Kultur des Aggressors mit Haut und Haar verwoben ist. "Ich fürchte, ich bin sehr russisch. Dieses Russische kommt mir wie die schlechte Seite meines Wesens vor. Ich habe das 2014 in mir entdeckt, als wir darüber nachzudenken begannen, wer wir sind", so die Dokumentarfilmerin Svitlana Lishchynska.
Eine Identitätssuche der normalen Menschen
Der rücksichtslose Angriff auf Krim und Ostukraine hat der Familie den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie unterschiedlich die drei Generationen damit umgehen, ist das Thema dieses Films, in dem keine Politiker vorkommen. Es ist eine Identitätssuche der normalen Menschen. "Ich versuche in meinem Film den gemeinsamen Nenner für alle Ukrainer zu finden, die gegen Russland kämpfen. Die Ukrainer haben ganz unterschiedliche ethnische Wurzeln. Aber es gibt etwas, das uns verbindet. Das sind unsere Werte", erzählt Lishchynska. Hier die persönlich betroffene Filmemacherin aus dem Kriegsgebiet, dort ein alter Kultregisseur aus New York, der einen Film über ihre Heimat gemacht hat. "Mich interessiert sehr, wie jemand aus dem Ausland, aus Amerika auf unseren Krieg blickt", so Svitlana Lishchynska.
"Turn in the Wound"
Abel Ferrara, bekannt für radikale Independent-Projekte, geht ganz amerikanisch an die Ukraine heran: Er kombiniert Konzertaufnahmen von Rockikone Patti Smith mit Original-Kriegsbildern. Die Künstlerin rezitiert Artaud und Jimi Hendrix, lyrische Anklagen gegen Gewalt. Das verbindende Element: die Protestgeneration, der Musikerin und Regisseur angehören. "Die Urerfahrung von jedem, der meiner Generation angehört, war der Vietnam-Krieg. Ich kann mich an gar keine Zeit ohne Krieg erinnern. Schon als ich Kind war, im Kalten Krieg, gab es einen Feind, das waren die Russen", so Regisseur Abel Ferrara.
Der Film fragt nach dem Warum
Der Ukraine-Krieg reißt bei Abel Ferrara eine Wunde auf. Die Kernfrage seines Films: das Warum. Warum führt der Mensch immer wieder Krieg? Sein Film ist disparat und inhomogen – und spiegelt so die verzweifelte Suche eines Filmemachers nach einer Ausdrucksform wider. "Ich erwarte nicht, dass ich eine Antwort finde. Was soll ich Ihnen sagen? Ich habe drei Kinder. Ich bin Buddhist. Ich glaube nicht an den Teufel. Aber wenn man sieht, was geschieht, kann man über den Teufel ins Nachdenken kommen. Das Töten geht immer weiter und weiter, wenn man einmal die Tür zur Gewalt geöffnet hat. Wie können wir diese Tür wieder schließen?", fragt Ferrara.
Lishchynska bei der Weltpremiere von Ferraras Film
Der Eindruck bei der Weltpremiere: irritierend. Aber so darf das auch sein, findet die ukrainische Kollegin. "Dieses Zusammenspiel mit Patti Smith war wahrscheinlich der Versuch, seine Gefühle zum Krieg auszudrücken. Ich glaube, er ist dem sehr nah gekommen", meint Svitlana Lishchynska. So ruhig und privat ihr eigener Film ist, sie hat eine klare Botschaft: dass jeder einzelne sich gegen die Entmenschlichung stellen muss. "Sterben werden wir alle. Es schreckt mich also nicht zu sterben. Was mir viel mehr Angst macht, ist, dass man zum Mörder werden könnte. Es ist deine eigene Wahl, ob man ein Mensch bleibt oder nicht", so die Regisseurin.
Autor: Norbert Kron
Stand: 19.02.2024 09:48 Uhr
Kommentare