So., 17.12.23 | 23:35 Uhr
Das Erste
"Nicht einen Schritt weiter nach Osten" – Buch von Mary Elise Sarotte
US-Historikerin analysiert die Hintergründe der Nato-Osterweiterung
Immer wieder rechtfertigt der russische Präsident Wladimir Putin den Überfall auf die Ukraine mit der, entgegen früheren Zusagen, erfolgten NATO-Osterweiterung. So in seiner Rede an die Nation am Vorabend des Überfalls, am 21. Februar 2022:
"Als 1990 die Frage der deutschen Wiedervereinigung erörtert wurde, sagten die USA der sowjetischen Führung zu, dass das Bündnisgebiet und die militärische Präsenz der NATO nicht einen Zentimeter nach Osten ausgedehnt würden. Und dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausweitung der militärischen Organisation der NATO nach Osten führen würde. Das ist ein Zitat."
Ein Zitat? Aus den Verhandlungen zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag, geschlossen vor mehr als 20 Jahren im September 1990. Der Grund für den Krieg in der Ukraine: ein Wortbruch?
Geschichte als Legende und Waffe
Dazu erklärt die US-amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte, die neu geforscht und nun ein Buch zum Thema publiziert hat: "Putin versucht, die Geschichte als Waffe einzusetzen. Und ich bin Zeithistorikerin und ich kenne diese Geschichte. Ich arbeite seit Jahrzehnten dazu. Also ist es mein kleiner Beitrag, ihn zu entwaffnen."
Mary Elise Sarotte, die heute in Harvard lehrt, studiert Ende der 1980er-Jahre in Berlin, als die Mauer fällt und sie erlebt, wie die alte Weltordnung über Nacht zusammenbricht. Davon handelt ihr Buch "Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung".
1990: Vision vom gemeinsamen europäischen Haus
Ihre Recherchen führen ins Auswärtige Amt im Zentrum Berlins. Im Archiv des Gebäudes der einstigen Reichsbank lagert das wichtigste Dokument der jüngeren deutschen Geschichte: das Original des Zwei-Plus-Vier-Vertrages. Das Ende von Nachkriegszeit und deutscher Teilung ist hier geregelt.
Die historischen Fakten sind heute Schulstoff. Während nach der Wende in der DDR erst die Mauer fällt und dann das ganze Land, steht wie aus dem Nichts die Deutsche Einheit auf der Tagesordnung der Geschichte. Die internationale Diplomatie läuft heiß. Denn seit Kriegsende ist Deutschland geteilt in zwei militärische Machtblöcke, Warschauer Vertrag und NATO. Wie sollte es damit weitergehen?
Historikerin Mary Elise Sarotte erläutert, was heute kaum noch vorstellbar scheint: "Es gab sogar eine Vision von einem gemeinsamen europäischen Haus, nicht nur von Gorbatschow. Die ganze Zone sollte entwaffnet werden, als eine Brücke zwischen Ost und West. Also das wäre eine neue Weltordnung gewesen.“
"not one inch" nach Osten?
Eine andere Welt schien möglich. Für Gorbatschow, von März 1990 bis Dezember 1991 letzter Staatspräsident der Sowjetunion, ist es Anfang 1990 allerdings ausgeschlossen, ein vereintes Deutschland könne Teil der NATO sein. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher sieht das ganz genauso und erklärt am 10. Februar 1990: "Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell."
Und im Januar 1990 versichert US-Außenminister Baker Gorbatschow, die Nato werde sich "not one inch" nach Osten bewegen.
Bush pfeift Baker zurück
Dabei bleibt es nicht, wie die Historikerin Mary Elise Sarotte nach ihren Recherchen so erklärt: "Als Baker dann nach Hause fuhr und von diesem Gespräch seinem Chef berichtete, hat Bush ihn zurückgepfiffen. Bush sagte zu Baker: 'James, da hast du dich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Ich bin der Präsident, nicht du. Das will ich nicht.' Baker hat dann sogar einen Brief geschrieben an das bundesdeutsche Außenministerium, kurz danach: 'Tut mir leid, ich habe für Verwirrung gesorgt. Darüber sollten wir nicht mehr reden.' Diesen Brief habe ich im Rahmen meiner Forschung für mein Buch entdeckt", sagt Sarotte und zitiert Baker so daraus: "Es sieht so aus, als hätte ich etwas Konfusion gestiftet, wir sollten in Zukunft vermeiden, von der Erweiterung der NATO zu sprechen, wenn es um unsere gemeinsame Position zu Deutschland und seine Beziehung zum Bündnis geht."
Sarottes Recherchen gleichen einem Krimi
Authentische Quellen und bisher unbekannte Dokumente machen Sarottes Recherchen zum Krimi. Zahllose interne Papiere hat sie aus den Archiven gefischt. Ein Strategiepapier des US-amerikanischen Außenministeriums für Verhandlungen, das besteht auf der deutschen Mitgliedschaft in der NATO. Notizen des Gorbatschow-Beraters Anatoli Tschernjajew: Das Wichtigste sei, dass niemand damit rechnen sollte, dass ein vereinigtes Deutschland in die NATO einträte.
Das Thema bleibt offen bis zum vermeintlich privaten Familientreffen von Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl in Camp David im Februar 1990, als der Fahrplan zur Wiedervereinigung entsteht, lange bevor die Öffentlichkeit davon erfährt.
Unwiderstehliches Angebot an die Sowjetunion
Sarotte fasst ihre Erkenntnisse so zusammen: "Präsident George W. Bush sagte über diese Verhandlungen zur Zukunft der NATO: 'Zur Hölle damit!' Wir haben gewonnen, sie nicht.' Und dann sagte Kohl: 'Okay, aber wir müssen Gorbatschow etwas anbieten, dann ist es vielleicht ganz einfach eine Geldfrage.' Bush hat dann geantwortet: 'Sie haben tiefe Taschen. They have deep pockets'."
Tiefe Taschen, weil die Sowjetunion dringend Geld braucht. Dem Land droht der Staatsbankrott. Gorbatschow steht mit dem Rücken zur Wand. Helmut Kohl, mit Kreditzusagen von Großbanken im Gepäck, bietet ihm nach langen Verhandlungen 12 Milliarden D-Mark an.
Zwei-Plus-Vier-Vertrag regelt auch Bündnisfreiheit
Im Gegenzug soll das wiedervereinigte Deutschland selbst entscheiden können, welchem Bündnis es angehört. Das war das Ergebnis der Verhandlungen, die im Dezember in den Zwei-Plus-Vier-Vertrag münden.
Die Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses ist vom Tisch. Kompromiss: Das Gebiet der ehemaligen DDR wird frei von Kernwaffen bleiben. Und: Nach Abzug der sowjetischen Armee sollen keine ausländischen NATO-Truppen in den Osten Deutschlands verlegt werden. Bis heute haben sich die Vertragsparteien daran gehalten – kein Wortbruch nirgends.
Historikerin Mary Elise Sarotte kommentiert: "Dieser Vertrag ist von Moskau unterzeichnet und ratifiziert. Und Moskau hat das Geld kassiert. Das ist geltendes Recht. Meines Erachtens gar keine Frage. Dann kam das zweite Kapitel: Was passiert in Osteuropa? Und dann stellte sich schnell heraus, beide Seiten, die westliche Seite und die ehemalige sowjetische Seite, die waren in einem Punkt gleicher Meinung. Dieser Vertrag bezog sich nur auf Deutschland. 100 Prozent der Teilnehmer meinten, das sei der Fall. Das Problem war, sie waren nicht einig, was das heißt."
Denn was nach dem Ende des sowjetischen Imperiums aus den anderen osteuropäischen Staaten werden würde, darüber wurde viel geredet, aber nichts vereinbart. Sarottes Buch räumt auf mit einem Missverständnis, das bis heute politisch Furore macht. Die Option "Nicht einen Schritt weiter nach Osten" war in der Konsequenz mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag beantwortet worden, einvernehmlich.
Nämlich, mit dem Recht eines jeden Landes, das Bündnis frei wählen zu können und der Zusicherung, die spätere NATO-Osterweiterung mit Russland abzustimmen, was in der NATO-Russland-Grundakte von 1997 erfolgt ist.
Autor: Rayk Wieland
Stand: 18.01.2024 14:17 Uhr
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