So., 26.05.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
Sendung vom 26.05.2024
Sasa Stanisic: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.: Für alle Freunde des etwas anderen Humors. Ein Buch voller Geist und Witz.
Kostprobe gefällig? Bitteschön: „Der Siggi lebte im zweiten Stock und war Schornsteinfeger und Reichsbürger. Sein Haar war vorne kurz und hinten lang. Das sah irgendwie aus, als hätte das Haar etwas zu Hause vergessen und käme beim besten Willen nicht drauf, was es war.“
Sasa Stanisic, der Autor von „Vor dem Fest“ und „Herkunft“ erprobt in seinem neuen Erzählband ziemlich genau das, was bei Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ der „Möglichkeitssinn“ heißt. Es könnte also alles auch anders sein. Wenn ich mich anders entschieden hätte. Wenn ES mich anders gesteuert hätte. Wenn ich nicht in diesem Sekundenbruchteil in meine Jackentasche gegriffen hätte und nicht exakt in diesem Tempo aus dem Lift getreten wäre, ja dann wäre der Schlüssel nicht genau in den Schlitz zwischen Aufzugstür und Draussen gefallen und nicht alle Schlösser im Haus müßten getauscht werden.
In Sasa Stanisic neuem Buch geht es also um die Kreuzungen, an denen sich vieles oder vielleicht sogar alles entscheidet. An den Kreuzungen geht es um Wahrheit oder Lüge, um Leben und Tod. Ödipus kam auch grade just in time, um den Vater zu erschlagen. Bei Stanisic gibt es einen Vater, der seinen achtjährigen Sohn betrügt, um diesen beim Memory zu schlagen. Kleine oder größere Dramen lösen sich so aus dem Gebälk des Lebens.
Ein ganz herrlicher Erzählband ist Sasa Stanisic da gelungen - ein wahre Freude! Er erscheint am 30. Mai 2024.
Caroline Wahl: Windstärke 17: Die Fortsetzung von „22 Bahnen“, Caroline Wahls erfolgreichem Debut-Roman über die Schwestern Tilda und Ida.
Es ist so eine Sache mit den beiden Büchern von Caroline Wahl. Sie lesen sich so weg, sie sind recht klug, sie sind ganz schön. Trotz Alkoholsucht und Überdosis der Mutter. Daraus resultieren Selbstvorwürfe der Protagonistin Ida, die ein wenig ins Schlingern gerät. Aber der Härte wird bei Caroline Wahl stets ein Weichspülelement beigefügt. Surfer Leif am Ostseestrand, die kleine Liebesgeschichte mit ihm, schon fühlt sich das Leben irgendwie wieder gut an. Nicht immer das Lesen, wenn etwa der Surfer-Junge beschrieben wird mit einem „entwaffnenden“ Lächeln. Je nun.
Caroline Wahl ist Jahrgang 1995 - also ziemlich genau das, was man Generation Airbag nennen könnte. Das Leben und der ganze Rest muß bei dieser Generation immer gut gepolstert und gefedert sein. Nicht zu unschön, nicht zu viele Kanten, nicht zu große Härten. Schön weich und manchmal eben weichgespült. Auch wenn zunächst ein wenig Finsternis ins Leben tritt und der Wind mit Stärke 17 ins Gesicht bläst.
Wenn man möchte, kann man die beiden Romane von Caroline Wahl durchaus als entradikalisierten Neo-Espressionismus lesen, bei dem letztendlich immer alles gut wird. In Zeiten allumfassender Weltenzerbröselung ist dies der Stil, mit dem viele Leser gewonnen werden, zumindest diese Gewissheit gibt es noch.
Die Empfehlung von Denis Scheck: David Grann: Der Untergang der „Wager“ : Das Buch, das Denis Scheck diesmal vorstellt, hat alles, was eine gute Geschichte ausmacht, die auf dem Meer spielt: Heldenmut, Feigheit, Meuterei, Kannibalismus – nicht zu vergessen Hunger, Durst und menschliche Torheit sowie extreme Wetterbedingungen! Von all dem erzählt David Grann in seinem historischen Sachbuch „Der Untergang der Wager“.
1740 sticht die HMS Wager von England aus in See als Teil eines Geschwaders, das im Pazifik Jagd auf die wertvollste Prise der Welt machen soll: eine spanische Galeone, randvoll beladen mit Gold, Silber und Edelsteinen - der Blutzoll, den Spanien seinen Kolonien in Amerika abpreßt. Diese Galeone weckt den Appetit der nicht minder raffgierigen Kolonialmacht Großbritannien, die sie auch tatsächlich erbeutet. Die HMS Wager aber scheitert schon an der Umrundung von Kap Hoorn und läuft vor Chiles Küste auf Grund. Teile der Besatzung können sich auf eine öde Insel retten. Dort aber entspinnt sich zwischen dem Kapitän, seinen überlebenden Offizieren und der Mannschaft ein existentialistisches Endspiel.
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