SENDETERMIN So., 21.04.24 | 23:55 Uhr | Das Erste

Sendung vom 21.04.2024

„Maifliegenzeit“ von Matthias Jügler : Bis heute ist umstritten, ob es in der DDR ein System von Kinderraub gab. Belegt sind einzelne Fälle. Die Zahl unbewiesener Verdachtsfälle reicht in die Tausende. Matthias Jügler lotet dieses dunkle Kapitel der Geschichte in seinem bewegenden Roman aus.

Es ist der Albtraum aller Eltern: Nach der Geburt teilen die Ärzte mit, dass das soeben entbundene Kind gestorben sei. Katrin und Hans erleben diese Tragödie in den 70-er Jahren unweit von Leipzig. Katrin hegt fortan Zweifel, hatte der Säugling doch gerade noch kräftig geschrien. Hans dagegen ergibt sich in die unabwendbaren Umstände, schaufelt selbst das Grab aus, erledigt die Formulare. Lange nach der Wende, Katrin ist längst gestorben, erhält Hans einen Anruf, der ein ungeheuerliches Verbrechen zu Tage befördert.

Matthias Jügler kontrastiert die lange Suche nach dem verlorenen Sohn mit den Angel-Erlebnissen von Vater Hans. Es ist die zweite Ebene im Roman. Einerseits fesselnde Naturbeschreibung, andererseits Gleichnis, das viel über die Kunst der Geduld, die Mühen der Ausdauer und die Wahrheit im Verborgenen erzählt. Wie viel Unrecht liegt in der Geschichte der DDR heute noch verborgen? Und kann man die Lügen, die einem erzählt wurden, jemals überwinden? Diese Fragen stellt Jügler in seinem zugleich spannend wie leise und einfühlsam erzählten Roman.  

„Die Neandertaler und wir“ von Svante Pääbo : Ihm gelang es als erster, die DNA einer Mumie zu klonen. Er entschlüsselte das Genom des Neandertalers und gewann den Nobelpreis für Medizin. Seine Forscher-Karriere hat der schwedische Wissenschaftler Svante Pääbo in einem Buch verarbeitet.

„Es ist kein Mensch“, mit diesen Worten weckte sein Doktorand den Forscher Svante Pääbo an einem späten Abend im Jahr 1996 aus dem Schlaf. Eine Sensation. Denn Pääbo und seinem Team am Zoologischen Institut der Uni München war damit erstmals die Entschlüsselung von DNA-Material eines Neandertalers gelungen – gewonnen aus dem jahrtausendealten Armknochen eines Urzeit-Menschen. Und noch aufregender: Dieses Neandertaler-Erbgut hatte erstaunlich wenig mit dem eines heutigen Menschen gemein.

Diese und viele andere bahnbrechende Geschichten erzählt der schwedische Biologe und Mediziner, der als Begründer der Paläogenetik gilt – also der Genforschung an fossilen und prähistorischen Überresten, in seinem Buch „Die Neandertaler und wir“. Das Buch ist in erster Auflage bereits 2014 erschienen. Nun kommt es mit neuem Vorwort und aktualisiert auf den Buchmarkt. Zwischen den beiden Auflagen liegt auch der Nobelpreis, der Svante Pääbo 2022 verliehen wurde.

Empfehlung von Denis Scheck: „James“ von Percival Everett: Kontrafaktur nennt man in der Kunst einen Gegenentwurf. Genau so einen Gegenentwurf hat Percival Everett geschaffen. Sein Roman „James“ reagiert auf eines der berühmtesten Werke der Literatur überhaupt: auf „Huckleberry Finn“ von Mark Twain.

Everett erzählt die Geschichte von Huck und Tom Sawyer aus der Perspektive des Sklaven. Dieser heißt nun James und nicht Jim, und auch sonst ist einiges anders in Everetts Erzählung: In einer wunderbaren Fantasie ist das Sklaven-Pidgin, in dem Twain im Original den Schwarzen Jim reden lässt, bloß eine Tarnung für die dummen Weißen. Tatsächlich sind die Schwarzen in Everetts Roman passionierte Leser und räsonieren in Abwesenheit der Weißen lieber über die feinen Unterschiede zwischen proleptischer und dramatischer Ironie oder träumen von Streitgesprächen mit Voltaire oder John Locke. Was nicht heißt, dass die Action in „James“ auf der Strecke bleibt: Die Geschichte von der Flucht des Sklaven James über den Mississippi und die Befreiung seiner Familie hat durchaus Züge von Quentin Tarantinos „Django Unchained“. Vor allem und hauptsächlich ist Everetts Roman aber ein geniales Sprachfest, das zu genießen gerade die einfallsreiche und sublime deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl einlädt. So gelingt Everett das nicht geringe Kunststück, einen ins Herz der gegenwärtigen Debatten über Rassismus und Identitätspolitik zielenden Roman zu schreiben, der sich gleichzeitig vor der Größe Mark Twains verneigt.

Außerdem in "Druckfrisch": Musik der Wiener Songwriterin Edna Million und Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik.

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Produktion

Westdeutscher Rundfunk
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