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Italien: Bröckelt die Macht der großen Familien?

Italien: Bröckelt die Macht der großen Familien? | Bild: Ralph Gladtiz, BR

Wir fahren durch die Po-Ebene – kurz vor Mantua: Schlaglöcher, immer wieder leerstehende Häuser, Agrarland. Mitten in den Feldern taucht plötzlich eine riesige Fabrik auf – das Stahlwerk der Familie Marcegaglia mit dem übergroßen Portrait des Firmenpatriarchen auf der Zentrale. Emma Marcegaglia, Vorstand der Marcegaglia SpA: "Mein Vater hat die Firma 1959 in diesem kleinen Ort auf dem Land gegründet, in dem es zuvor überhaupt keine Industrie gab. In jener Zeit geschahen unglaubliche Geschichten: wenn er die Maschinen in Gang setzte, gingen im Ort die Lichter aus. Es waren echte Pionierzeiten."

Seit dem Tod ihres Vaters führt nun die Tochter Emma gemeinsam mit ihrem Bruder Antonio die Geschäfte des Stahlkonzerns. Zudem stand Emma Marcegaglia als erste Frau an der Spitze der Confindustria, Italiens mächtigstem Industrieverband, und hat durchgesetzt, dass aus dem Verband herausfliegt, wer nachweislich Schutzgelder an die Mafia zahlt.

Hauptstraße in Gazoldo d'Ippoliti
Hauptstraße in Gazoldo d'Ippoliti | Bild: BR

In sechs Jahrzehnten hat die Familie Marcegaglia mit ihren Mitarbeitern einen weltweit führenden Stahlveredler geschaffen, mit 43 Produktionsstätten quer über den Globus, 7500 Mitarbeitern und jährlich fünf Milliarden Euro Umsatz. Dabei bleibt das Familienunternehmen eng mit der Region verbunden, sieht sich als Vorzeigeunternehmen. Selbst während der Wirtschaftskrise gab es keine Negativschlagzeilen.
Emma Marcegaglia zeigt den engen Zusammenhang: "Pro Familie arbeitet wenigstens eine Person für uns. Wir haben auch Fälle, in denen die Ehefrau, der Ehemann, die Kinder und die Enkelkinder bei uns arbeiten. Wir haben einen Kindergarten gebaut. Wir haben sehr stark zum sozialen Wohlstand dieses Ortes beigetragen. Unser Unternehmen ist deshalb sehr wichtig. Nicht nur für den Ort, sondern auch für die ganze Region Mantua."

Im Ortskern besitzt die Familie Marcegaglia eine große Residenz, der Bruder wohnt hier, abgekauft von einem altem Adelsgeschlecht, das Jahrhunderte lang die Geschicke der Region bestimmte, so wie über lange Zeiten überall in Italien: Der Adel und mächtige Familiendynastien haben sich das Land aufgeteilt, den Ton angegeben, auch in den Regierungen, nicht immer zum Wohle der Gemeinschaft.

Sebastiano Barisoni
Sebastiano Barisoni | Bild: BR

Mailand, das Handels- und Finanzzentrum Italiens: Wir treffen Sebastiano Barisoni, Wirtschaftsexperte und Vizedirektor des Senders Radio 24. Er hat viele Missstände in der öffentlichen Verwaltung angeprangert, Korruption in Politik und der Privatwirtschaft: "Natürlich gibt es die großen legendären Familienunternehmen, zum Glück! Sie haben auch noch einen bedeutenden Einfluss auf das Land, aber sicher nicht mehr wie in den 60er oder auch 80er Jahren, weil sich der italienische Kapitalismus verändert hat. Wir zählen mittlerweile gut 20.000 Unternehmen, die auf den internationalen Märkten sehr gut präsent sind. Für die ist der Weltmarkt das Maß, nicht mehr Italien."

Emma Marcegaglia ist ständig global unterwegs, sie steht in engem Kontakt mit ihren Filialen und Kunden, weit über Italien hinaus. In ihrer Residenz empfangen sie und ihr Bruder Gesprächspartner aus Arabien, Südamerika, Asien. Das ist ihre Ausrichtung: "Heute ist die Verbindung der großen, starken Unternehmensgruppen, die sich im Markt bewegen, zur Politik quasi null. Wir arbeiten nicht für den Staat, nehmen keine öffentlichen Aufträge. Unsere Kunden sind ausschließlich Privatunternehmen. Die großen Industriegruppen und Unternehmerfamilien haben praktisch keine Verbindungen zur Politik."

Sebastiano Barisoni
Sebastiano Barisoni | Bild: BR

Sagt die Chefin des Familienkonzerns. Doch was sagt der Radiojournalist, dessen Blick sich täglich auf die Entwicklungen in Italiens Wirtschaft und Politik richtet? Sebastiano Barisoni, Vize-Direktor Radio 24: "Wenn wir betrachten, wie sich die politische Klasse Italien zusammensetzt, dann gibt es da natürlich Personen, die aus dem römischen Großbürgertum oder aus dem in Mailand kommen. Aber der große Teil des politischen Führungspersonals kommt aus recht normalen Verhältnissen. Das gilt sowohl für Mitte-Links wie auch für Mitte-Rechts, das gilt für die Demokraten von Renzi wie für die Lega von Salvini."

Normale Verhältnisse? Was ist mit diesen schillernden Figuren in Italiens Politik, mit Regierungschefs vom Schlage eines Berlusconi? Sebastiano Barisoni ordnet ein: "Berlusconi ist von selbst Berlusconi geworden. Eine Familie Berlusconi ist keine wichtige Familie in diesem Land, sie ist eine unbekannte Familie. Wenn wir also über einflussreiche Familien reden, die zum Aufstieg eines Politikers beigetragen haben, dann kann ich da momentan keine nennen."

Emma Marcegaglia
Emma Marcegaglia | Bild: BR

Auch Familie Marcegaglia hätte stärker mit der Politik anbandeln können, als Regierungschef hat Silvio Berlusconi Emma Marcegaglia sogar angeboten, Ministerin zu werden – was sie entschieden abgelehnt hat.
Filz und Chaos in der italienischen Politik, damit wollen die meisten Firmenchefs nichts zu tun haben, obwohl immer eine Unruhe mitschwingt, wenn erneut gewählt wird. Aber Emma Marcegaglia ist zuversichtlich: "Ich denke, dass wir am Ende schon eine pro-europäische Regierung und eine Regierung haben werden, die die Reformen, die in diesen Jahren in Gang gesetzt wurden, fortsetzen wird. Natürlich gibt es eine Unsicherheit, da muss ich ganz ehrlich sein: man weiß jetzt nicht, wie die Lage am Ende sein wird. Ich denke, dass, auch wenn es keinen klaren Sieger geben wird, der Staatspräsident wahrscheinlich den Anstoß für eine pro-europäische und reformfreundliche Koalition geben wird."

Die Bewunderung für den Firmenpatriarchen Steno Marcegaglia scheint ungebrochen in der Gegend um Mantua. Hier beeinflusst das Familienunternehmen nach wie vor die Entwicklung der Region. Die Politik in Rom dagegen hat für viele traditionelle Großunternehmer an Anziehungskraft verloren.

Autor: Ralph Gladitz, ARD München

Stand: 01.08.2019 07:49 Uhr

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