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Ukraine: Das Schicksal der verschleppten Kinder

Ukraine: Das Schicksal der verschleppten Kinder | Bild: NDR

Es war ein historischer Schritt, zu dem der Internationale Strafgerichtshof sich entschlossen hat: Seit einigen Tagen läuft gegen den russischen Präsidenten Putin ein Haftbefehl. Grund dafür ist seine mutmaßliche Verantwortung in die Verschleppung von ukrainischen Kindern. Laut ukrainischen Angaben wurden bereits mehr als 16.000 Kinder nach Russland oder in Russisch besetzte Gebiete gebracht und dort festgehalten.

Ihor Lysevych ist 16 Jahre alt, liebt das Turnen und stammt aus dem Süden der Ukraine. Aber erst seit rund zwei Wochen ist Ihor wieder zurück in seiner Heimat. Mehr als vier Monate wurde er in Russland festgehalten, durfte einfach nicht mehr zurück – bis jetzt. "Es ist toll. Ich hatte es satt, dort zu sein. In die Ukraine zurückzukehren ist ein großer Schritt, weil viele gar nicht mehr zurückkommen."

Jetzt wohnt er zusammen mit seiner Mutter und anderen Vertriebenen in einer Schule. Ihor berichtet, dass er mit mehr als 1.000 ukrainischen Kindern und Jugendlichen in Russland gewesen sei. "Wir hatten eine Begleiterin. Und sie sagte, wir würden sehr wahrscheinlich zu einer anderen Organisationen kommen, sowas wie Pflegeheime, Pflegefamilien oder so."

Zwischen die Fronten geraten

Aber wie ist Ihor überhaupt nach Russland geraten? Seine Geschichte zeigt, wie Menschen im Krieg zwischen die Fronten geraten. Die Familie stammt aus dem Dorf Antonivka. Kurz nach Kriegsbeginn erobern die Russen ihre Gegend. Acht Monate leben sie unter russischer Besatzung, mit russischen Medien - dann erhalten sie ein Angebot: ein Feriencamp-Besuch für Ihor, weit weg von der Kampfzone, in Russland. Seine Mutter sagt zu. Es ist Ihors erster Urlaub überhaupt. "Die Leute im Camp haben gesagt: So eine Chance! So ein Chance! Bleib! Aber kaum jemand hat hingehört."

Dann ändert sich die Lage: Überraschend erobern die Ukrainer seine Heimat-Region zurück. Und Ihor darf das russische Ferienlager nicht mehr verlassen. Ihor sagt, er sei gut behandelt worden. Keine Gewalt, keine Propaganda. Nur Gerüchte im Camp: Wer in Russland bleiben will, soll angeblich Geld erhalten.

Seine Mutter Natalya Lysevych hatte währenddessen Angst, ihren Sohn für immer zu verlieren. Zeitweise verlieren sie den Kontakt zueinander. "Wie lässt sich das sagen? Ich war schockiert. Es war einfach ein Schock, dass ich mein Kind in die Ferien geschickt habe, aber es war nicht klar, wie diese Ferien enden würden. Dass ich ihn vielleicht nicht wiedersehen würde." Über eine Hilfsorganisation erfährt sie, wie sie Ihor zurückholen kann: persönlich, in Russland. Planung und Kosten übernehmen die Helfer.

 Mehr als 16.000 Kinder laut ukrainischen Angaben verschleppt

Karte mit Orten in Russland, Ukraine und Polen.
Auf einer abenteuerlichen Reise holt Natalya Lysevych ihren Sohn zurück in die Ukraine | Bild: NDR

Die Reise beginnt in Antonivka, führt über Warschau und Belarus über die russische Grenze, dann nach Moskau und von dort zu Ihors Camp in Anapa – Tausende Kilometer, zwei Wochen lang. Vor Ort ging es dann schnell, erzählt Natalya Lysevych. Dokumente werden geprüft, eine Unterschrift und Ihor darf gehen. Musste Lösegeld übergeben werden? Natalya: "Nein, nein. Überhaupt kein Geld."

Ihor ist kein Einzelfall. Mehr als 16.000 Kinder wurden laut ukrainischen Angaben bislang verschleppt. Im russischen Fernsehen heißt es, die Kinder würden vor den Kriegswirren gerettet – durch neue Adoptiveltern. Besonders präsent: die russische Kinderrechts-Kommissarin Maria Lvova-Belova: "Sie haben ein Kind aus Mariupol adoptiert", fragt Putin. - "Ja." - "Ein Kleines?" - "Nein. Fünfzehn Jahre alt. Jetzt weiß ich, wie es bedeutet, Mutter eines Kindes aus dem Donbas zu sein." Gegen beide hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle erlassen – wegen ihrer mutmaßlichen Verantwortung für die Kinder-Verschleppungen.

Mehr als 300 Kinder haben es zurück in die Ukraine geschafft

Einige Kinder – mehr als 300 sollen es sein – schaffen es inzwischen auch zurück in die Ukraine. Daria Kasyanova von SOS Kinderdorf Ukraine organisiert solche Rückhol-Aktionen. Über die genauen Details der Rettungswege, über Kontakte und Helfer, spricht Daria Kasyanova nicht – aus Angst, zukünftige Rettungen zu erschweren. Denn manchmal lassen Ferienlager und Adoptivfamilien die Kindern nicht frei. "Wir hatten schon Verweigerungen. Wir haben Kinder, die wir nicht zurückholen konnten, obwohl sie hier Verwandte haben, die alle Dokumente ausgefüllt haben. Und diese Kinder warten immer noch darauf in die Ukraine zukommen zu können“, erzählt Kasyanova

Sie berichtet von sogenannten patriotischen Bildungsprogrammen, die viele der verschleppten Kinder in Russland durchlaufen müssen. Und: "Kinder, vor allem Teenager, berichten, dass ihnen gesagt wurde, sie würden zur Armee kommen. Sie müssten Russland verteidigen. Es gibt dort viel Propaganda gegen die Ukraine."

Aber wie es ist möglich, verschleppte Kinder zurück zu ihren Eltern zu bringen? Wir fragen bei bei Daria Herasymchuk, ukrainische Beauftragten für Kinderrechte, nach: Wird mit Russland kooperiert? Erhält Russland etwas im Gegenzug? "Wer hat Ihnen gesagt, dass sie die Kinder zurückgeben? Ich habe nie davon gesprochen, dass sie Kinder zurückgeben. Bis jetzt haben wir mindestens 308 Kinder geholt plus nochmal 15 heute. Es war nicht mit Zustimmung Russlands. Das ist kein Austausch."

 Anweisungen aus russischen Ministerien

Eine junge Frau schaut in die Kamera.
Nastya wurde von ihrer Mutter abgeholt. | Bild: NDR

Auch Nastya war monatelang in einem Camp – auf der russisch besetzten Krim. Sie hat Bilder gemalt, eines zeigt ihre Mutter. Zunächst, erzählt Nastya, sei es nur ein Feriencamp gewesen – voll mit Kindern aus der Ukraine. Aber dann sei die Abreise immer und immer wieder verschoben worden. "Als wir schon einen Monat länger da waren, sagten sie: 'Vielleicht geht ihr, vielleicht auch nicht.' Und später hieß es, 'dies sei eine Evakuierung'. Sowas wie, dass da gerade Krieg sei und es keinen Grund gebe zurückzugehen." Nastya erzählt, der Direktor ihres Camps stand mit russischen Ministerien in Kontakt, hat deren Anweisungen befolgt und weitergegeben. "Wir haben gesagt: Bringt uns zurück nach Hause, wir wollen nach Hause. Und dann haben sie geschrien: 'Lasst doch die Eltern kommen und sie abholen' und 'wir wissen nicht, wie lange ihr hierbleiben werdet'", erzählt Nastya.

Auch Nastyas Mutter Lyudmila hat ihre Tochter persönlich abgeholt. Für die Befragung an der russischen Grenze haben ukrainische Helfer ihr Instruktionen gegeben: So sollte sie nicht sagen, dass sie ihre Tochter abhole, sondern sie nur besuche. Lyudmila erinnert sich: "Sie haben alles Mögliche gefragt, wie: 'Willst du nicht deine Staatsbürgerschaft ändern?' Ich sagte: Ich bin nur zu Besuch. Ich habe ein Haus. Ich bin eigentlich aus der Ukraine. Und dabei hatte ich Angst, sie zu beleidigen." Lyudmila glaubt, den Russen gehe es nicht nur um die Kinder, sondern um die ganzen Familien. "Viele Eltern sind dort geblieben, viele. Viele haben Verwandte dort. Viele wollten bleiben, aber viele Kinder wurden auch nicht freigelassen. Es ist einfach eine Strategie: Die Kinder zu nehmen, die Eltern anzurufen, ihnen dann Zertifikate und Geld anzubieten, sodass sie alle zusammen dort sind."

Nastya und ihre Mutter überlegen nun, wo sie in Zukunft leben wollen – vielleicht in Tschechien oder Polen, sagen sie. Für viele andere ukrainische Kinder droht eine andere Zukunft – verschleppt und festgehalten, irgendwo in Russland.

Autor: Tobias Dammers, ARD-Studio Kiew

Stand: 26.03.2023 19:34 Uhr

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