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China: Die unfreiwillige Ein-Kind Nation

China: Die unfreiwillige Ein-Kind Nation | Bild: NDR

Muqing dämmert noch vor sich hin – in seiner Traumwelt. Aber aufstehen muss er pünktlich um zehn nach sieben. Seine Mutter Lan Li hat schon alles zurecht gelegt, umsorgt ihn jede Minute. Sie will nicht, dass er sich gehetzt fühlt. "Morgens beim aufwachen umarme ich ihn und küsse ihn und sage: Mein Baby-Engel, du bist der Beste. Magst du aufstehen?" Zum Frühstück gibt es nicht nur Obst und Brot. Auch etwas Nahrung für den Intellekt des Zehnjährigen hat die Mutter vorbereitet.

Früher gab es Englisch-Unterricht vor der Schule. Jetzt erzählt der Lehrer aus dem Notebook über chinesische Geschichte. Alles, was er jetzt lernt, muss er später nicht mehr lernen. Den Weg in eine gute Zukunft wollen die Eltern ebnen. Auch wenn die Gegenwart deswegen für alle anstrengender ist. "Es war nicht sehr einfach hierher zu ziehen. Wir mussten eine Wohnung in diesem Schulbezirk kaufen und unsere Registrierung hierher verlegen. Nur so konnte unser Sohn auf diese gute Schule gehen."

Ziel der Eltern: Aufstieg der Kinder durch Bildung

Muqings Eltern verhalten sich wie die typischen Mittelklasse Eltern in Chinas Megastädten. Mutter Lan Li ist ein Einzelkind – wie so viele. Bis vor acht Jahren gab es die strikten staatlichen Vorgaben der Ein-Kind-Politik. Lan hat ihren Aufstieg durch Bildung geschafft, so will sie es jetzt auch für ihren Sohn. "Er ist in Englisch schon sehr weit voraus. Darum konzentrieren wir uns jetzt auf Mathematik. Diesen Sommer wollen wir beispielsweise ein oder zwei Wochen schon mal die Lerneinheiten für das nächste Schuljahr durchgehen."

Während Muqing in der Schule lernt, arbeitet Lan im Marketing für eine Schönheitsklinik. Der Job, dazu die Erziehung, all das lastet schwer auf ihren Schultern. "Es ist dein Kind, du bringst es auf die Welt und begleitest es einen Teil seines Lebens. Alles, was du tust – oder nicht tust – hat einen großen Einfluss auf das ganze Leben deines Kindes. Ich habe das Gefühl: Ich habe nicht die Kraft, diese Verantwortung für ein weiteres Kind zu übernehmen."

China kämpfte lange gegen Überbevölkerung

Zwar erlaubt die Regierung seit 2021 sogar drei Kinder pro Familie, aber inzwischen wollen die meisten nur eines. Das war lange anders. Rückblick auf Weltspiegel-Beiträge aus den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren. China kämpfte damals gegen Überbevölkerung. Dort heißt es:

"Je mehr Kinder, so der Ansatz des Revolutionärs Mao, desto mehr Kommunisten. Die Konsequenz seiner Politik – vor der schon in den 1950er-Jahren chinesische Wissenschaftler vergeblich warnten. Von 540 Millionen im Jahre 1949 stieg die Bevölkerung Chinas bis 1970 auf 820 Millionen Einwohner.".

"Schon Mitte der 60er Jahre hat die Volksrepublik China damit begonnen, Geburtenkontrolle zu propagieren. Aber erst seit zwei Jahren haben die Kampagnen Nachdruck und Breitenwirkung erhalten."

Am Arbeitsplatz, in den Fabriken, organisierte die Partei in den 1970er-Jahren Kurse zur Familienplanung. Zunächst sollte Aufklärung helfen – und kostenlose Verhütungsmittel, Pillen und sonstige Apparaturen, die an verheiratete Frauen in Apotheken vergeben wurden. Doch die Eingriffe in die Familienplanung wurden immer strikter. Ende 1979 führte die chinesische Regierung die Ein-Kind-Politik ein – bei Verstößen drohten Strafen.

Im Weltspiegel im Jahr 1989 stellte die Pekinger Professorin Hu Yamei für Kinderkrankheiten noch weitere Forderungen: Die bisherige Praxis verstoße gegen die Politik der Ein-Kind-Familie. Mit variablen Geldstrafen zu ahnden, sagt sie, reiche nicht aus, es müsse endlich ein Gesetz geschaffen werden, das diesen Komplex landesweit regele und auch die Abtreibungsfrage einschließe. Wenn andere Mittel fehlschlugen, müsse man verstärkt zu Zwangsabtreibungen übergehen. Und dass viele Ausländer eine solche Praxis für inhuman halten, wisse sie. Aber sie empfehle diesen Ausländern immer wieder, doch nach Peking zu kommen, sich das Menschengewimmel, das Gedrängel, das Geschubse einfach mal anzusehen.
"Drängele, nicht!" heißt ein Lied zum Fernsehspot Ende der 1980er-Jahre, der gleichzeitig für zivilere Umgangsformen wie für die Ein-Kind-Familie wirbt.

Regierung propagiert Mehrkinder-Familie – Mittelschicht zieht nicht mit

Eine Frau spricht in die Kamera.
Lan hat ihren Aufstieg durch Bildung geschafft, so will sie es jetzt auch für ihren Sohn. | Bild: NDR

Heutzutage drängeln sich die Kinder nicht mal auf dem Pausenhof. Inzwischen propagiert Chinas Regierung die Mehrkinder-Familie. Aber besonders die Mittelschicht, über 400 Millionen Menschen, zieht nicht mit. "Ich denke, es ist ein internationaler Trend, dass die Menschen, sobald sie ein gewisses Lebensniveau erreicht haben, vorsichtiger mit der Erziehung von Kindern umgehen", sagt Lan Li.

Muqing hat nach der Schule noch Englischunterricht – per Videoschalte nach Amerika. Um 19 Uhr kommt noch die Klavierlehrerin. An anderen Tagen stehen dazu noch Mal-Unterricht und ein Skateboard-Kurs an. Insgesamt zahlt die Familie umgerechnet 1.600 Euro im Monat für die lehrreichen Aktivitäten außerhalb der Schule. Damit Eltern und Kinder nicht überfordert werden, hat die Regierung vor zwei Jahren eigentlich Privatunterricht verboten. "Unser Unterricht ist davon nicht betroffen, weil er nicht direkt an Schulinhalt anknüpft. Und Mathe und Chinesisch unterrichte ich ihn ja selbst. Da suche ich mir chinesische Lernbücher raus", erklärt Lan Li. Am nächsten Tag stellt sich Muqing einem Englisch-Test. Einfach so, damit er sich an Tests gewöhnt. Offiziell ist zwar die Ein-Kind-Politik abgeschafft, aber zumindest die Kinder der Mittelschicht bleiben meist auch in der nächsten Generation allein.

Autorin: Tamara Anthony, ARD-Studio Peking

Stand: 11.06.2023 19:15 Uhr

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