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Mayotte/Komoren: Frankreichs vergessene Kinder

Mayotte/Komoren: Frankreichs vergessene Kinder | Bild: WDR

Das ist eine Familie. Die neue Familie von Matchéssou. Er ist 12 und der Kleinste in der Gruppe. Gemeinsam zieht er mit den Älteren durch die Straßen der Hauptstadt von Mayotte. Die Gruppe gibt ihm und den anderen Kraft.

Matchéssou, Kind von den Komoren:

»Bist du schon lange hier?«

»Ja.«

»Und was machst du, um etwas zu essen zu bekommen?«

»Ich gehe aufs Feld und klaue Bananen und Gemüse.«

»Und wie heißt du?«

»Matchéssou. Das ist ein Spitzname und das heißt Unglück – antworten die anderen für ihn...«

Matchéssou kam mit seinen Eltern von den benachbarten Komoren nach Mayotte. Doch seine Eltern wurden zurückgeschickt. Wie so viele. Die Kinder bleiben allein zurück – in Frankreich dürfen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nicht abgeschoben werden. Ganz auf sich allein gestellt hausen sie in den heruntergekommenen, verfallenen Häusern und leben mitten im Müll. Kein richtiges Dach über dem Kopf – kein anständiges Bett, um zu schlafen.

Der 25 jährige Justo, der Anführer der Gruppe, ist so etwas wie der Ersatzvater von Matchéssou und den anderen Kindern.

Justo, Anführer der Gruppe:

»Wir sind wie Ratten. Genauso. Ich glaube, wir haben keine Wahl. Wir können uns nicht integrieren, also stehlen wir. Und wer stiehlt, kommt ins Gefängnis. Und wer aus dem Gefängnis kommt, hat Schwierigkeiten, sich ins soziale Leben zu integrieren. Es steht uns auf der Stirn geschrieben: „Schuldig“.«

Eigentlich sollten sie in die Schule gehen oder spielen. Doch in den jungen Gesichtern sieht man mehr Lebenserfahrung als gut ist.

Ihre Eltern wurden mit dem Polizeiboot zurückgebracht. Die Kinder bleiben zurück, so entstehen jeden Tag Straftäter, jeden Tag wird die Kriminalität größer. Denn man schiebt da hinten Mütter und Väter ab, ohne zu wissen, wie die Familienverhältnisse sind. Sie schnappen jemanden und er kommt direkt mit dem Polizeiboot zurück.

Hier oben im Norden von Mayotte, kommen jeden Tag die Boote mit den Flüchtlingen an. Anjouan – die Komoreninsel liegt in Sichtweite. Knapp 70km trennen die Bewohner, die vor Armut und Elend flüchten von Mayotte. Mayotte, die muslimisch geprägte Insel – das ist Französisch und das bedeutet Wohlstand, Ordnung, Hoffnung – all das, was sie in ihrer Heimat vermissen.

3-4 Stunden dauert die Überfahrt bei ruhiger See. In den frühen Morgenstunden landen sie erstmal auf einer der kleinen vorgelagerten Insel, immer in der Hoffnung, dass sie nicht vom Radar erfasst werden. Mit Madi fahren wir hinaus aufs Meer. Auch er kommt von den Komoren, ist aber schon seit 1994 hier. Damals brauchte man noch kein Visum. In seinem Herzen ist er Komore geblieben – das Schicksal seiner Landsleute, die sich aus Verzweiflung auf den Weg übers Meer machen, geht ihm nahe. So wie vielen anderen im Dorf auch.

Madi, Komore:

»Alle im Dorf haben schon mal Flüchtlinge mitgenommen und geholfen. Sie haben es nicht für Geld gemacht, sondern weil ihnen die Leute leid taten. Das alles ist nicht einfach. Alle im Dorf haben es umsonst gemacht, ganz umsonst. Alles, um deren Leben zu retten.«

Wenn es die Flüchtlinge geschafft haben, bis zur Inselhauptstadt durchzukommen,  ohne von der Polizei erwischt zu werden, sieht ihr Leben oft nicht besser aus, als auf den Komoren.

Offiziell sind sie jetzt in Frankreich. Mit EU-geförderten Straßen und mit Mülltrennung. Doch oben in den Bidonvilles, den Wellblechbehausungen, sieht es aus, wie daheim auf den Komoren.

Aber etwas Entscheidendes fehlt den meisten Kindern hier: Vater und Mutter.

Allein sind sie nicht, es gibt immer jemanden, der sich um die Kleinen kümmert, eine Tante, eine frühere Nachbarin, oder ein Freund. Familie, das ist ein Begriff, der hier nicht so eng gesehen wird. Und oft schafft es eine Mutter, die schon mal abgeschoben wurde, doch wieder zurück nach Mayotte zu ihren Kindern zu kommen. Solange, bis sie von der Polizei aufgegriffen und wieder abgeschoben wird.

Hidaya Brahim von der Hilfsorganisation Apprentis d’Auteuil  kümmert sich täglich um die Kinder dort.

Hidaya Brahim, Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Apprentis d’Auteuil:

»Mayotte ist zwar ein Departement, aber ein armes Departement. Es ist von den großen Chefs, von Frankreich, den Bewohnern des Mutterlandes vergessen worden. Die Minderjährigen, die hier herumirren hat man vergessen. Wir sind nur auf dem Papier Franzosen.«

Das sieht die Präfektur auf Mayotte natürlich nicht so – die Insel sei ja erst seit wenigen Jahren ein richtiges Departement.

Alain Faudon, Unter-Präfekt von Mayotte:

»Man muss den Dingen Zeit geben, sich zu entwickeln. Frankreich ist mit der Hilfe Europas dabei, Mayotte zu entwickeln.«

Aber Frankreich muss sich um die Flüchtlingsproblematik kümmern. Jeder Komore, der von der Polizei aufgegriffen wird, landet hier, im Abschiebegefängnis von Mayotte. Für die Menschen hinter der Schiebetür ist der Traum vom Leben in Frankreich erstmal vorbei. Rund 20.000 Menschen sind im letzten Jahr von hier aus wieder zurückgeschickt worden.

Doch welche Chance haben die, die es geschafft haben zu bleiben? Jobs gibt es kaum auf Mayotte. 36% sind arbeitslos – nach der offiziellen Statistik.

Und auch sie werden wohl kaum eine richtige Arbeit finden. Sie werden in ihrer kleinen Ersatzfamilie weiter auf den Straßen herumhängen, ab und zu etwas stehlen und in den Tag hineinleben. Wenn ihr Anführer Justo ein kleines Chamäleon traktiert, schleicht sich manchmal ein kleines Staunen über ihr Gesicht. Auch der kleine Matchéssou fühlt sich dann geborgen. Matchéssou, das heißt ja Unglück. Frankreichs vergessene Kinder auf Mayotte könnten alle diesen Namen haben.

ARD Paris/Autorin: Ellis Fröder

Stand: 26.04.2015 20:35 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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