So., 21.09.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Thailand – Die Seelensammler von Bangkok
Thailands Straßenverkehr ist berüchtigt. In kaum einem anderen Land ist die Gefahr, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, so groß. Insbesondere in der 9-Millionen-Metropole Bangkok.
Für die Verletzten auf den Straßen gibt es eine einzige Hoffnung: Die sogenannten Seelensammler. Freiwillige Helfer, die sich ohne Bezahlung die Nächte um die Ohren schlagen. Mit ihren Fahrzeugen rasen sie zu den Unfallorten. Immer wieder gelingt es ihnen, Leben zu retten. Ein funktionierender staatlicher Rettungsdienst existiert nicht in Thailand, das übernehmen die Seelensammler. Sie denken dabei auch an ihr eigenes Glück, denn durch ihren Einsatz, glauben sie, verbessere sich ihr Karma im jetzigen und im folgenden Leben.
Jetzt zählt jede Sekunde. Die Seelensammler von Bangkok geben Gas, um Leben zu retten. Die Funkzentrale hat gerade einen Unfall gemeldet. “Das ist nicht weit von hier. Sie sagen, dass es Überlebende gibt. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Nur wenn wir schnell genug sind, haben die Verletzten eine Chance!”
Noi ist seit 25 Jahren ein Seelensammler. Tagsüber arbeitet er für einen Abschleppdienst, nachts trägt er Schwerverletzte vom Asphalt. Menschenleben retten, das hat er sich selbst beigebracht. Denn einen funktionierenden staatlichen Rettungsdienst - den gibt es in Thailand nicht. Vor Ort liegen drei Schwerverletzte am Boden. Ihre Motorräder sind ineinander gefahren. Schnell reagieren - darum geht es jetzt. Einer der Verletzen klagt über starke Schmerzen. Ob es innere Verletzungen gibt, das können die Seelensammler oft nur abschätzen.
Die 19 jährige Mee ist erst seit wenigen Monaten dabei. Die Studentin hält sich zurück. Sie will nichts Falsches machen. Doch sie bereut es nicht, hier zu sein. “Wenn andere in einen Unfall geraten, kann ich sie doch nicht auf der Strasse liegen lassen. Wir sind doch alle Menschen. Wir haben doch alle ein Herz. Vorbeifahren, ohne zu helfen, das könnte ich einfach nicht!”
Von der Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. … Noi organisiert den schnellen Transport der Verletzen. Die Unfallstelle absperren, den Verkehr regeln - auch das übernehmen die Seelensammler. Ihr Treffpunkt ist diese Tankstelle an einer der vielen Schnellstrassen. Hier schlagen sie sich die Nacht um die Ohren. Und warten auf den nächsten Einsatz. Seelensammler zu werden - das ist für die meisten Berufung. Doch so mancher sucht auch das Abenteuer. Den Kick. Fotos vom Unfallort - das sind für sie digitale Trophäen.
“Klar, wenn du die Fotos auf Facebook zeigst, können alle sehen, was du machst, Manchmal rufen auch Freunde an und fragen, was passiert ist. Und vielleicht können wir ja auch ein paar Leute überzeugen, bei uns mitzumachen." Sie sind Arbeiter, Angestellte, Studenten. Menschen, die in ihrer Freizeit das machen, was der Staat nicht leisten kann.
Eine medizinische Ausbildung haben die Seelensammler nicht. Ab und zu mal eine Erste-Hilfe-Übung. DAS muss im Zweifel reichen. Heute soll Mee zeigen, was sie gelernt hat, Beine, Arme und Kopf fixieren. Das können sie üben. Viel mehr nicht. Am Ende geht es darum, die Verletzten möglichst schnell ins nächste Krankenhaus zu bringen. “Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Menschen, die überfahren wurden, gebrochene Schädel, viel Blut. Natürlich möchte ich so etwas nicht sehen. Aber das kann ich mir nicht aussuchen.”
Am Stadtrand von Bangkok lebt Mee mit ihrer Mutter. Dass ihre einzige Tochter eine Seelensammlerin ist, daran gewöhnt sich die Mutter nur langsam. Jedes Mal ist sie erleichtert, wenn Mee am Morgen gesund nach Hause kommt. Tagsüber studiert Mee Betriebswirtschaft. Und sie schminkt sich gern. Das Make-Up ist ihr wichtig. Mee will hübsch aussehen, bevor sie dem Schrecken wieder in die Augen schaut. “Viele meiner Freunde sind angewidert. Sie sagen es vielleicht nicht, aber ich merke, dass sie mir nicht zu nahe kommen wollen. Sie machen sich lustig und geben mir Spitznamen, Sie nennen mich dann Mee, das Mädchen das Leichen einsammelt!”
4.00 Uhr Uniform anziehen. Mee bereitet sich auf die nächste Nachtschicht vor. In die Uniform der Seelensammler zu schlüpfen, das ist für sie jedes Mal ein ganz besonderer Moment. “Ich werde dann zu einem anderen Menschen. Zuhause laufe ich rum wie alle Teenager. Aber wenn ich nachts rausgehe, dann gibt mir diese Uniform Mut und Vertrauen!” Mut und Vertrauen - das braucht sie auch auf den Strassen Bangkoks. 9 Millionen Menschen leben in der Megacity. Fast genauso viele Autos und Motorräder drängeln sich durch den Verkehr.
Kurz nach Mitternacht. Mee ist seit Stunden im Dauereinsatz. Es ist Freitag Nacht. Ununterbrochen kommen die Notrufe über die Zentrale rein. Mee ist als eine der ersten am Unfallort. Doch jede Hilfe kommt zu spät. Ein Fussgänger wurde von einem Auto erfasst. Der Mann war sofort tot. Das Auto steht 20 Meter entfernt. Ein Totalschaden. Vom Fahrer fehlt jede Spur. Der Täter ist geflüchtet. “In solchen Fällen bleibe ich ganz ruhig. Ich schliesse die Augen des Toten und sage ganz leise: Habe einen guten Schlaf. Niemand wird Dir mehr weh tun!”
Von Nervosität oder Angst ist plötzlich nichts zu spüren. Mee ist hochkonzentriert. Sie sucht nach den Papieren, dokumentiert das Hab und Gut des Toten. “Wo ist das Handy”, fragt Mee. Es sei schon passiert, dass andere Helfer oder Augenzeugen, Wertsachen eingesteckt hätten. Auch ihr Kollege Noi ist inzwischen am Unfallort eingetroffen. Mee schildert ihm, was passiert ist, was sie gemacht hat. “Ich bin sehr stolz auf sie. Sie ist stark und nicht angewidert. Man merkt, dass sie immer besser werden will, gerade wenn sie sich um die Toten kümmert!”
Der Leichnam wird in ein weißes Tuch gewickelt. Eine Tradition im Buddhismus. Die Seelensammler sind überzeugt, dass ein plötzlicher Tod die Seele des Unfallopfers aufschreckt. Unheil über die Lebenden bringt. Ihre Mission ist es nun, die Geister der Toten beruhigen. Dabei geht es den Seelensammlern auch um das eigene Glück. “Wenn wir sterben, können wir nichts mit uns nehmen, kein Gold, kein Geld, rein garnichts. Alles, was wir dann noch haben, ist unser Karma. Das einzige, das wir mit uns nehmen können, ist unsere Güte.”
Vielleicht ist das ihr Geheimnis. Der Tod ist für die Seelensammler kein tragisches Ende, sondern ein Neuanfang. Mee ist davon überzeugt: Wer jede Nacht die Grenzerfahrung sucht, der wird belohnt. Im hier und jetzt und im nächsten Leben.
Autor: Norbert Lübbers / ARD Studio Singapur
Stand: 22.09.2014 09:21 Uhr
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