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USA: Verlorene Jugend in Chicago

USA: Verlorene Jugend in Chicago | Bild: SWR

Ein kurzes Leben auf der Überholspur, danach gibt es meist eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Tod oder Knast. So beschreibt George das Leben hier im Gang-Vorort von Chicago. Das ist die Wahl, die du in West-Side hast. Illusionen macht er sich keine. Das coole glänzende Chicago ist nur eine paar Kilometer Luftlinie entfernt. Die Barak-Obama-Bibliothek steht hier.

Aber Chicago steht eben auch für ein massives Gewalt-Problem: In keiner anderen amerikanischen Stadt werden in absoluten Zahlen so viele Menschen erschossen. 2016 erreichte die Stadt einen traurigen Höchststand seit 20 Jahren: 762 Tote. Es sind vor allem Jugendliche, Afro-Amerikaner und Latinos, die Opfer von Gang-Kriminalität und Drogenkrieg werden. Verena Bünten, ARD-Studio Washington.

Booney ist ein besonders liebevoller Großvater: Seine eigenen Kinder hat er nicht aufwachsen sehen, da saß er gerade im Gefängnis: 27 Jahre lang, für seine Verbrechen als Anführer einer Gang. In der rauen West Side ist er noch heute eine Autorität – inzwischen kümmert er sich als Streetworker um die Jungen. Mittendrin im Dreieck aus Gangs, Drogenhandel und Gewalt wohnt Booney – seine Veranda ist quasi sein Büro. Die tägliche Party auf seiner Straße, sie kann jederzeit umkippen in eine tödliche Schiesserei, wenn die gegnerische Gang aufkreuzt und es um Verteilungskämpfe beim Drogenhandel geht – der Chance auf das große Geld. "Für mich ist das hart", meint Streetworker Booney McFowler, "sie davon zu überzeugen, dass sie keine Drogen mehr verkaufen sollen und sich stattdessen einen legalen Job suchen. Ich erkläre ihnen, dass das langfristig besser ist für sie. Kurzfristig kann ich nicht konkurrieren mit dem schnellen Geld, dass sie hier machen."

Die Gang ist für viele ohne Alternative

Zwei Frauen
Die Väter im Knast, die Mütter brauchen mehrere Jobs zum Überleben | Bild: SWR

Ein kurzes Leben auf der Überholspur, die meisten hier kennen nichts anderes. Sie wachsen auf mit (abwesenden) Vätern, die im Knast sind, und alleinerziehenden Müttern, die selbst mit drei Jobs kaum ihre Kinder durchbringen können. Wer hier groß wird, gerät schnell an die falschen Helden. Aus Angst vor seinen Rivalen ist George immer bewaffnet. Er ist 44, hat sieben Kinder: "Wenn Du ein Teil von dem hier sein willst – wir verticken Drogen, all die Sachen – dann ist das Deine Entscheidung, ob Du das Risiko eingehen willst. Für uns gibt es hier nur zwei Möglichkeiten: Gefängnis oder Tod –  das ist hier Deine Wahl!" "Wieso gehst Du das Risiko ein?" "Ich habe mich für das schnelle Geld entschieden."

Dealen statt Unterricht – viele steigen schon früh ein ins gefährliche Gang-Geschäft. Mit 13 hat Jonathan angefangen. Seine Tattoos erzählen die Geschichte von Freunden, die jung gestorben sind, z.B. von LNG, der mit 16 vor seiner Schule aus Rache erschossen wurde. Jonathan ist 23 und gerade wieder raus aus dem Gefängnis – seine Gang ist für ihn die Familie, die er nie hatte, erzählt er – und dass er im Knast, aber auch draußen den Schutz der Gang braucht:  "Das Leben in einer Gang ist nicht cool, wir haben uns das ausgesucht, weil wir keine andere Wahl haben. Wir hier sind an einem Punkt, da gibt´s nichts anderes. Wir müssen das hier machen."

"Schlimmer als in Syrien und Afghanistan"

Muster, die sich immer weiter fortschreiben. Streetworker Booney ist einer der wenigen, der die Jugendlichen erreicht. Er hadert damit, dass es zu wenig Gelder für zu große Probleme gibt: "Hier ist es schlimmer als in Syrien und Afghanistan. Jeden Tag sterben Menschen bei Schießereien. Und das kommt nicht von außen, wir erschießen uns gegenseitig. Waffen sind hier so leicht zu kriegen – in diesem Viertel kannst Du schneller eine Waffe kaufen als eine Flasche Saft." Das alles passiert 13 Kilometer entfernt von Chicagos strahlendem Stadtzentrum. Das Postkarten-Chicago – viele der Kinder von der West Side haben es noch nie in ihrem Leben besucht. Nichts erinnert hier an die Problembezirke, die seit Jahrzehnten existieren, um die sich das schicke, das weiße Chicago aber nicht wirklich zu kümmern scheint – außer mit der Polizei.

Polizisten neben Polizeiautos
Chicago hat eine lange Geschichte von rassistischer Polizeigewalt | Bild: SWR

Zurück auf der Schattenseite: Aus einem vorbeifahrenden Auto wurde soeben auf Jugendliche geschossen – Patronenhülsen als stumme Zeugen der täglichen Gewalt. Es ist eine der hier üblichen Gang-Fehden – auf offener Straße, am Nachmittag, die Schulkinder sind gerade erst nach Hause gekommen. "Ich war oben im Haus und habe Schüsse gehört", erzählt eine Mutter. "Ich habe mich mit meinen Kindern auf den Boden geworfen, ich hatte Angst – und sehr traurig, denn: Da waren ein Mädchen und zwei Jungen, ihr wurde in den Nacken geschossen. Meine Kinder müssen immer im Haus bleiben, sie können nicht draußen spielen, das ist zu gefährlich. Wir würden sofort woanders hinziehen, aber wir haben kein Geld."

650 Tote in einem Jahr

Improvisierte Gedenkstätten für die vielen Toten: 650 Menschen wurden 2017 in Chicago erschossen. Die Polizei spricht von einer leichten Entspannung der Zahlen. Das Verhältnis zwischen Polizisten und Minderheiten gilt als zerrüttet – Chicago hat eine lange Geschichte von rassistischer Polizeigewalt. Wer hier auf der Schattenseite lebt, fühlt sich systematisch ausgegrenzt Der amerikanische Traum vom sozialen Aufstieg – für Menschen mit dunkler Hautfarbe habe er selten funktioniert, meint Booney.

Laden mit heruntergelassener Rolladen
Die West Side von Chicago hat wenig gemein mit dem strahlenden Stadtzentrum  | Bild: SWR

Aber Davion hat einen Traum: Er ist 18 und will später Krankenpfleger werden. Um Geld zu verdienen, arbeitet Davion in der Nachtschicht bis morgens um 6 und geht danach in die Schule. Früher hat er seine Geschwister durch Drogendealen ernährt. Booney hat ihn rausgeholt aus der Gang: "Ich war früher wie er. Ich schaue in seine Augen und sehe mich in dem Alter. Damals war ich schon auf der Straße, im Gefängnis – den größten Teil meines Lebens habe ich im Knast verbracht. Ich will nicht, dass ihm passiert, was ich durchgemacht habe." Und Davion meint: "Er ist für mich der Vater, den ich nie hatte. Ich hatte nur Onkel und Verwandte, die mir sagten, was ich nicht machen soll, aber nie, was ich stattdessen machen kann. Aber wie soll ich das eine lassen, wenn Du mir keinen anderen Weg zeigst?"

Booney hat ihm Mut gemacht, dass es noch ein anderes Leben gibt – auch wenn es hier schwerfällt, daran zu glauben. Aber Booney gibt keinen so leicht auf, er will auch ihr Notausgang sein von der schiefen Bahn. Und ahnt doch, dass es noch Generationen dauern wird, bis es gleiche Chancen gibt – für die Kinder auf der Schattenseite von Chicago.

Stand: 03.08.2019 11:17 Uhr

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