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Ukraine: Auszeit im Nagelstudio

Ukraine: Auszeit im Nagelstudio | Bild: WDR

Wenn der Krieg Alltag wird, war erstaunt festzustellen, wie man sich umstellt, gewöhnt. Wie Dauerdruck immer da ist. Wo sind die Inseln? Frauen sehen immer gepflegt aus. Die kleinen Dinge aus Friedenszeiten mit rüber nehmen in die neue Zeit. Vertrautheit schaffen. Struktur.

Den Helm braucht Ira in Kiew nicht mehr. Aber an der Front im Donbass schon, sie kommt gerade da her. Da tragen sie und Anja Militärkleidung. Jetzt haben die beiden seit zehn Stunden im Auto gesessen. Endlich wieder nach Kiew, vielleicht sogar kurz ausatmen. Mit dem Auto haben sie als Freiwillige seit Anfang des Krieges schon alles Mögliche an die Front gebracht, was Zivilisten und Militärs dort brauchen. Wärmebildkameras, Medikamente. Schutzwesten.

Sie wollen sich schön fühlen

Beide riskieren viel, wenn sie die Soldaten an der Front unterstützen. "Dieses Mal sind wir in der Nähe von Bahkmut unter Beschuss geraten. Da war dieser Konvoi von Militärautos. Sie wurden mit Mörsergranaten angegriffen, wir waren 150 Meter entfernt. Aber wir haben es geschafft", erzählt Ira.

Ukraine: Im Nagelstudio in Kiew vergessen Frauen für kurze Zeit den Krieg.
Ukraine: Im Nagelstudio in Kiew vergessen Frauen für kurze Zeit den Krieg. | Bild: WDR

Unsere Autofahrt ist lebendig. Wir wechseln die Themen zwischen Krieg und eine Sekunde später Kosmetik. Klingt komisch, aber in dieser Situation fallen mir die Fingernägel der beiden auf. "Seit Beginn des Krieges dachte ich, ich muss gut aussehen, man weiß ja nie, wann eine Rakete auf einen fällt. Ich möchte eine schöne Frau sein, eine Traumfrau", sagt Anja und Ira ergänzt: "Für mich ist es immer entscheidend gut auszusehen. Ich sitz ja viel hinter dem Steuer, und ich sehe echt anders aus. Alle normalen Menschen haben jetzt im Krieg abgenommen. Ich habe zugenommen, habe meine Haare abgeschnitten. Wenn ich aus dem Donbass zurückkomme, sehe nicht so gut aus. Aber als Frau will ich natürlich attraktiv sein, so wie vor dem Krieg. Also versuche ich gut auszusehen." "Wenn du jetzt Fingernägel wie meine siehst, sind die für dich dann dreckig?", fragt Reporterin Isabel Schayani. "Sind normal. Maniküre ist ein kleiner Teil aus meinem alten Leben vor dem Krieg, was ich mitnehmen möchte. Wenn ich die machen lasse, fühle ich mich etwas normaler.“

Dieser Krieg ist so groß, man bekommt den Eindruck, dass gerade die ganz kleinen und vertrauten Dinge besonders wichtig sind. Fingernägel. Vor dem Krieg war Ira eine Regieassistentin beim Film. Noch pendelt sie als Freiwillige zwischen Front und Kiew. Ein paar Tage später treffen wir sie in einer komplett anderen Welt. Im Nagelstudio.

"Das Nagelstudio ist wie so ein Mädchenclub. Wir treffen uns hier. Dann fragen wir uns, wie es so geht. Und sprechen mit der Nageldesignerin. Man kann sich vom Alltag ablenken. Das ist eine magische Welt", erzählt Ira und Isabel Schayani fragt: "Vergisst du den Krieg, wenn du arbeitest?" "Ja manchmal. Man knipst die Wirklichkeit für einen Moment aus und später wieder an", antwortet Nagelmeisterin Inna.

Ira will zurück an die Front

Mädelsclub. Auf Russisch heißt Mädel Dievotschka. Eine junge Frau kann eine sein und eine ältere auch – wir würden sagen 'Dame'. Eine Dievotschka pflegt sich im Idealfall immer. Im Frieden und im Krieg. "Wenn ich in den Donbass an die Front fahre, muss ich attraktiv aussehen. Weil ich die Jungs sehe. Wir vernachlässigen uns selber nicht. Krieg ist Krieg und Frauen bleiben Frauen!", sagt Ira, "Wenn wir dahin kommen und sie sehen uns, wollen sie, dass wir schön aussehen. Wir tragen nicht Zivil, sondern sind im Militär-Outfit. Und dann gibt es nur einen Weg, wie eine Frau auszusehen, Maniküre, Make-Up und Haarschnitt.“

Ukraine: Ira hat Hilfsgüter an die Front gebracht, jetzt hofft sie auf eine Pause, gemeinsam mit Freundinnen.
Ukraine: Ira hat Hilfsgüter an die Front gebracht, jetzt hofft sie auf eine Pause, gemeinsam mit Freundinnen. | Bild: WDR

Kleine Liebeserklärung an die Ukraine auch auf dem Fingernagel. Und da ist sie mit ihren Mädels unterwegs, ihre Nageldesignerin Inna ist auch an Bord. "Wir sind hier an der Metro-Station Kreshatic. Ist die zentrale Haltestelle in Kiew, der sicherste Ort in der Stadt. Es ist so tief. Wenn eine Bombe fällt, ist das der sicherste Ort. Jeder ist sicher. Dann werden alle gerettet", erzählt Ira und Inna ergänzt: "Ist das erste Mal, dass ich zu so einem Konzert in der Metro gehe. Das ist echt ungewöhnlich. Die ganzen Gefühle dieser Tage werden da hochkommen."

Ira hat Karten bekommen zu diesem Konzert. Mitten am Tag in der Metro.
Es ist die Sehnsucht nach Normalität und gleichzeitig der Tanz auf dem Vulkan. Ein ständiges Warm und Kalt, Ira zwischen Nagelsalon, Konzert und Kriegsfront. "Wie kommst du mit diesen verschiedenen Welten klar?", fragt Isabel Schayani und Ira antwortet: "Ich krieg es gar nicht hin. Gar nicht. Ich besuche gerade Kurse für Notfall-Medizin. Ich werde in einem Monat an die Front gehen." "Warum willst du dorthin?" "Ich komm damit sonst nicht klar. Viele Jungs sind an der Front gestorben, weil sie sich selber nicht versorgen konnten und ich will ihnen das erklären und ihnen helfen."

Ira rutscht immer weiter in den Krieg. Aber so gut kennen wir sie schon, Iras Nägel werden auch dort funkeln. Für den Moment ist sie hier. Im Dunkeln funkeln die jetzt auch noch. Es sind diese kleinen Dinge, die den Alltag ausmachen. "Wenn jemand sagt 'Frau', dann ist das eine ältere Respektsperson. Ja, wenn mich jemand Frau nennt, dann denke ich, nein, ich bin doch ein Mädel", sagt Ira.

Hin und her zwischen den Welten. Wie lange hält man das aus. Front hier, Kiew da.

Autorin: Isabel Schayani

Stand: 28.08.2022 20:20 Uhr

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Westdeutscher Rundfunk
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