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Tunesien: Die verratene arabische Revolution

Tunesien: Die verratene arabische Revolution | Bild: IMAGO / NurPhoto

Tunesien galt lange Zeit als Leuchtturm in der arabischen Welt. Der Arabische Frühling ging von hier aus. 12 Jahre ist es her, als sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi auf der Straße in Sidi Bouzid selbst anzündete. Es folgten demokratische Reformen. Aber im vergangenen Jahr hat der aktuelle Präsident Kais Saied das demokratische Rad wieder zurückgedreht und sich nun selbst per Referendum mehr Macht verschafft. Und die Wirtschaft liegt am Boden. In der kommenden Woche sind Wahlen. Majdedine Badri, 21, Gemüsehändler heute in Sidi Bouzid, wird nicht hingehen. Er blickt skeptisch in die Zukunft Tunesiens.

Das Leben ist teuer geworden

Wenn Majdeddine Badri am Samstag auf dem Souk, dem Markt, sein Gemüse anpreist, ist er voll in seinem Element. Er würde gern auch in der Woche verkaufen. Aber die Behörden der Kleinstadt Sidi Bouzid ließen ihn nicht, klagt er. Meistens weiß er schon am Morgen, dass er nachmittags nicht viel Geld daheim abliefern kann. "Ich verkaufe schon zum Spottpreis. Ich verdiene an so einem Tag 10-20 Tunesische Dinar, je nachdem, wie viel ich verkaufe, aber manchmal bekomme ich nicht mal mehr meinen Einsatz raus." Um die fünf Euro Tagesverdienst – das ist auch in Tunesien wenig. Erstrecht bei der enormen Inflation. Eine Frau klagt: "Gott helfe mir. Ich habe nicht eine einzige Tomate, keinen einzigen Tropfen Öl, keinen Zucker mehr daheim."

Gemüsehändler Majdeddine Badri an seinem Verkaufsstand
Gemüsehändler Majdeddine Badri macht wenig Geschäfte  | Bild: SWR

Wenn Majdeddine samstags zum Markt geht, werden Erinnerungen wach. Als Zehnjähriger hat er gesehen, wie sich Mohamed Bouazizi auf dieser Straße angezündet hat. Das Denkmal für ihn erinnert an den Beginn des arabischen Frühlings vor 12 Jahren – und an das Ende eines autokratischen Präsidenten. "Wenn ich wählen könnte, würde ich mir die Zeit vor der Revolution zurückwünschen. Weil alles preiswert war und die Menschen sicher, ruhig und zufrieden leben konnten. Nicht wie heute."

Vom Präsidenten enttäuscht

Heute ist sein Alltag Armut. Zu Hause bei Majddedines Familie. Drei Zimmer für die Eltern und sechs Kinder, kein Kühlschrank, Wasser auf dem Hof. Bei den Vorbereitungen zum kargen Mittagessen streiten sie über die Schule. Hinten und vorne fehlt Geld, für das Nötigste: Lebensmittel, Medizin, Schuhe. Die Mutter verkauft Kleidung, auch das läuft derzeit schlecht. Für ihre Kinder wünscht sie sich ein besseres Leben. "Ich dränge sie, etwas für die Schule zu tun", sagt Ghania Laker. "Das ist wichtig für ihre Zukunft, für ihr Wohlergehen. Es gibt keine Arbeit in Tunesien. Mein Sohn Majdeddine hat das Abitur nicht geschafft, Ich habe ihn gedrängt, es nochmal zu versuchen, aber er will das nicht." Denn auch für Nachhilfe fehlt das Geld. Und Majdeddine würde ohnehin lieber sein Glück in Europa suchen.

Schwimmbecken in Hotel-Anlage
Der Tourismus läuft nach Corona nur langsam wieder an  | Bild: SWR

Weg von hier. Sidi Bouzid, Keine Industrie, keine Jobs, keine Perspektive. An der Küste – so scheint es – hat Tunesien noch eine Sonnenseite. Im vergangenen Sommer kamen nach Covid die ersten Touristen zurück. Für Hotelmanager Samy Ben Dhafer lief die Saison gut, er kann seinem Team immerhin Einjahresverträge bieten. Trotzdem sei die Lage nicht stabil, viele Hotels in der Nachbarschaft mussten schließen. Vom aktuellen Präsidenten hätte er sich mehr erhofft. "Leider haben wir jetzt das Gefühl, dass nichts dafür getan wurde, um den tunesischen Bürgern dabei zu helfen, den Lebensunterhalt zu verdienen und Arbeit zu behalten. Man müsste die Steuern senken, damit investiert wird und Arbeit entsteht – nichts davon ist passiert." Und so kämpfen selbst an der Küste, wo der Tourismus mal vielen ihr Einkommen sicherte, Menschen um ihre Existenz. Samir Al Majdi hat früher in Hotelküchen gearbeitet. Dann kam Corona, der Job war weg. Jetzt verkauft er tagsüber Popcorn, nachts bewacht er Fischerboote. Im Tourismus, sagt er, findet er keine Arbeit mehr. "Sie stellen Dich zwei oder drei Monate lang ein, mehr nicht. Sie sagen, sie rufen Dich an. Ihnen ist es egal, ob Du Familie hast. Sie wissen, dass ich jede Arbeit machen würde und auch Erfahrung habe, aber es kam nichts."

Viele denken: Wählen ändert nichts

Majdddine sitzt mit seinen Freunden Tag für Tag im Café in Sidi Bouzid. Sie schlagen die Zeit tot. Keiner von ihnen hat einen Job, ob mit oder ohne Abschluss. Über Politik reden sie kaum, auch nicht darüber, dass in Tunis gerade ein Präsident das Rad der Demokratie zurückdreht. "Nachdem ich zuletzt gewählt hatte, hat sich nichts verändert. Das Leben wurde sogar schlimmer. Ob Du wählst oder nicht, das ist doch egal." Und Mounir Zari meint: "Ich habe gewählt und ich habe beim Verfassungsreferendum abgestimmt. Das gehört zu den Dingen in meinem Leben, die ich wirklich bereue. Möge Gott mir verzeihen, hoffentlich mache ich diesen Fehler nicht wieder." Ein düsterer Blick auf die junge tunesische Demokratie.

Junge Männer in Café
Viele junge Menschen sehen kaum Perspektiven  | Bild: SWR

Irgendwo dort hinten ist alles besser, denken sie. Und riskieren viel, um nach Europa zu kommen. Bei Majdeddines erstem Versuch streikte der Motor auf hoher See. Beim zweiten Mal legten die Schlepper erst gar nicht ab. Zweimal 1.300 Euro waren weg. "Ich liebe Tunesien, es ist mein Land und ich möchte in diesem Land begraben werden. Aber Ich habe genug von diesem Land. ich will mich weiterbilden, ich will etwas erreichen, ich will nicht arm bleiben." Wenn er eine Ausbildung bekäme, würde Majdeddine nicht weg gehen. Vielleicht versucht er es doch mal in Tunis – ein Hoffnungsschimmer.

Autorin: Kristina Böker, ARD-Studio Madrid/Maghreb

Stand: 13.12.2022 16:22 Uhr

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