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Türkei: Marsch für Gerechtigkeit

Türkei: Marsch für Gerechtigkeit | Bild: imago

Massendemonstrationen gegen das Erdogan-System sind in der Türkei eine Seltenheit geworden. Kritiker des autoritären Kurses ihres Präsidenten landen schnell im Gefängnis. Doch noch immer gibt es so etwas wie "Opposition" in der Türkei. Und sie wird zunehmend sichtbar. Vor wenigen Tagen hat sich eine Gruppe auf einen Protestmarsch begeben.

Von der Hauptstadt Ankara bis ins nach Istanbul. 400 Kilometer lang wollen sie darauf aufmerksam machen, dass die Türkei sich immer weiter von einem Rechtsstaat weg entwickelt. Auf ihren Transparenten und Plakaten haben die Protestierenden ein Wort geschrieben: "Adalet": Gerechtigkeit.

Kemal Kilicdaroglu mit anderen Teilnehmern beim Marsch für Gerechtigkeit
Kemal Kilicdaroglu und seine Unterstützer marschieren nach Istanbul.  | Bild: SWR

Für viele Türken gilt er als der "Gandhi ihres Landes": Kemal Kilicdaroglu. Seit 2010 ist der 69-jährige Vorsitzender der größten und mächtigsten Oppositionspartei im Lande, der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP. Nur er könnte so etwas wie ein Gegenspieler für den immer mächtiger werdenden islamisch-konservativen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sein. Der CHP-Chef gilt als vorsichtig und zögerlich. Nun aber macht er Opposition sichtbar. "Am Ende muss Gerechtigkeit stehen! Wir marschieren für Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte und dafür, dass inhaftierte Journalisten wieder frei gelassen werden! "

20 Kilometer am Tag für den Protest

Seit fast einem Jahr herrscht in der Türkei nach dem Putschversuch vom 15. Juli Ausnahmezustand. Für Kilicdaroglu bedeutet das, allein der Verdacht der Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK oder zur Bewegung des Islam-Predigers Fetullah Gülen – die die Regierung als Drahtzieher des Putschversuchs ansieht – kann genügen, seinen Job oder seine Freiheit zu verlieren. Dagegen marschiert man nun seit zehn Tagen an – rund zwanzig Kilometer pro Tag. Dabei könnte die Polizei jederzeit eingreifen. Von Erdogan und der Regierung hat es bereits mehrfach entsprechende Drohungen gegeben.

Menschen mit Plakaten mit der Aufschrift "adalet" (Gerechtigkeit)
Der Marsch ist die erste großangelegte Protestaktion der Opposition seit langer Zeit. | Bild: SWR

So mancher Teilnehmer hat am eigenen Leib erfahren müssen, was die in der Türkei eingeschränkte Rechtssicherheit bewirken kann: Der ehemalige Ober-Staatsanwalt Ilhan Cihaner zum Beispiel wurde wegen unerwünschter Ermittlungen festgenommen. "Seit meiner Verhaftung hat man, anstatt daraus zu lernen und einen gerechteren Justizapparat zu schaffen, bei dem Versuch die Gülen-Leute aus dem System zu entfernen, neue Ungerechtigkeiten entstehen lassen! Derzeit sind in der Türkei viele Journalisten, aufgeklärte Menschen, Wissenschaftler, Politiker und Abgeordnete wegen nicht belegbarer Anschuldigungen in Haft!"

Eine Provokation für Erdogan

Insgesamt etwa drei Wochen wird der Protest-Tross unterwegs sein. Je näher man dabei dem erklärten Ziel, der Millionenstadt Istanbul, kommt, umso größer dürfte die Zahl der Teilnehmer werden. Der "Marsch der Gerechtigkeit", türkisch "adalet", er ist die erste großangelegte Protestaktion der Opposition seit langer Zeit – eine Provokation für Präsident Erdogan. "Wir verfolgen aus der Nähe sehr genau, was in der Türkei vor sich geht!", sagt Kemal Kilicdaroglu. "Sollten die Ungerechtigkeiten weitergehen, werden wir noch mehr Aktionen wie diese machen!" Es sind nicht nur Anhänger der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP die mitmarschieren. Was sie alle eint, ist Kritik am autoritären Regierungsstil von Präsident Erdogan und der islamisch-konservativen Regierung.

Plakat von Präsident Erdogan an Hauswand.
Nicht überall ist der Marsch willkommen.  | Bild: SWR

Nachdem der "Marsch für Gerechtigkeit" tagelang durch fast menschenleere Gegenden geführt hatte, nur begleitet von Polizisten, trifft er in der 24.000-Seelen-Stadt Gerede auf normale Bürger. Gerede – etwa 100 Kilometer westlich von Ankara gelegen – ist islamisch geprägt, eine Erdogan-Hochburg. Fast zwei Drittel gaben hier bei den letzten Wahlen der amtierenden Regierung ihre Stimme. Beim Verfassungsreferendum im April dieses Jahres votierten beinahe 90 Prozent mit Ja – für mehr Macht für den Präsidenten! So richtig willkommen ist der Tross um den Oppositionsführer hier deshalb nicht. "Was diesen Marsch angeht, so halte ich ihn in der heutigen Türkei für nicht förderlich! Man will offenbar unser Land beschädigen!", sagt ein Bewohner. "Meiner Meinung nach wollen die die Menschen aufwiegeln und das Land durcheinanderbringen!", meint ein anderer.

Der Putsch muss aufgeklärt werden

Es wird Abend: Die Demonstranten ziehen sich in ihre Begleitfahrzeuge zurück. Für Kemal Kilicdaroglu ist der Putschversuch vom Sommer letzten Jahres die historische Wende der türkischen Politik. Die Ereignisse vom 15. Juli, für ihn haben sie letztlich Präsident Erdogan geholfen, einen regelrechten Feldzug gegen die Opposition zu starten. "Der 15. Juli muss aufgeklärt werden!", fordert Kemal Kilicdaroglu. "Wer hat aus welchen Gründen den Putschversuch unternommen? Doch im Parlament wurde alles dafür getan, eine wirkliche Aufklärung zu verhindern! Der Geheimdienstchef konnte nicht befragt werden! Der Generalstabschef kam gar nicht erst! Die wichtigsten Akteure schweigen! Wie soll man da aufklären?"

In den sonst meist regierungsnahen türkischen Medien wird über den "Marsch für Gerechtigkeit" erstaunlich sachlich und relativ ausführlich berichtet. Kurz vor dem Jahrestag des Putschversuchs werden Kilicdaroglu und seine Leute in Istanbul eintreffen – sofern man sie nicht gewaltsam daran hindert.

Ein Film von Michael Schramm (ARD-Studio Istanbul)

Stand: 16.07.2019 03:17 Uhr

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