Golineh Atai über die Lage in Tschetschenien

Golineh Atai im Gespräch mit dem Menschenrechtler Igor Kalyapin
Golineh Atai im Gespräch mit dem Menschenrechtler Igor Kalyapin

Wie ist die politische Lage in Tschetschenien derzeit?

Golineh Atai: Am 5. April hat Präsident Putin die Amtszeit des Republikleiters Ramsan Kadyrow verlängert. Faktisch herrscht Ramsan – wie er gemeinhin genannt wird – seit 12 Jahren. Er wurde nie gewählt. Als einziger Republikchef mischt er sich lautstark in die föderale Politik ein, bezeichnet die russische Opposition als Volksfeinde, stellt auf das Bild eines russischen Oppositionellen eine Zielscheibe und veröffentlicht es auf Instagram. Vor der Mandatsverlängerung spielte er öffentlich mit dem Gedanken zurückzutreten, sein Regime ließ daraufhin tausende Demonstranten in Grosny auflaufen, mit Schildern wie "Ramsan, geh nicht!".

Es gibt Gerüchte, dass sich das Verhältnis zwischen Kadyrow und Putin nach dem Mord an Kremlkritiker Boris Nemzow verschlechtert haben soll, und dass kurzzeitig Ramsans Zukunft auf dem Spiel stand. Die Spuren dieses Mords wie auch vieler anderer Morde führen ja nach Tschetschenien. Ich frage mich aber, ob Putin und Kadyrow nicht auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Der Kreml wird ihn nicht loswerden können, man kritisiert ihn als "emotionalen Hitzkopf", aber man kann ihn nicht loswerden, ohne einen Flächenbrand zu riskieren.

Im September diesen Jahres, bei den Duma-Wahlen, muss Ramsan sich als Gouverneur erstmals einer Wahl stellen, ich habe aber keine Zweifel, dass er diese Wahl gewinnt, es wird eine Scheinwahl werden, mit Hilfe von Polittechnologen als demokratische Veranstaltung inszeniert. Es kann sein, dass diese Wahl das Regime und seine Männer, seine "Kadyrowzi", dennoch nervös macht. Vielleicht erklärt diese Nervosität die Zunahme von Willkür, Angst und Einschüchterung. Die Zahl der Terroranschläge durch islamistische Gegner von Ramsan ist im Vergleich zu den Nachbarrepubliken des Kaukasus stark gesunken, die letzten beiden Anschläge waren Anfang Mai und im Dezember 2014. Diese von Moskau immer wieder gepriesene Stabilität ist in meinen Augen eine Schein-Stabilität: Nach meiner Einschätzung ist die Unzufriedenheit der Bevölkerung massiv.

Diese Unzufriedenheit und das Klima der Angst erklären zu einem großen Teil die Attraktivität des IS für viele junge Männer, sowie die Auswanderung von Intellektuellen, Menschenrechtlern, Journalisten und die Zunahme von Asylanträgen in Europa. Föderales russisches Recht gilt immer weniger. "Der Staat bin ich", hat Ramsan Kadyrow öffentlich erklärt.

Sie waren früher schon in Tschetschenien. Wie hat sich die Stimmung in der russischen Teilrepublik verändert?

Ich war vor genau drei Jahren zuletzt dort. Damals konnten wir in Grosny noch einheimische Menschenrechtler treffen und sogar Interviews mit Menschen machen, denen das Regime zugesetzt hatte. Dieses Mal blieben unsere Anrufe unbeantwortet, Betroffene wollten nicht am Telefon reden und uns nicht treffen. In den vergangenen Monaten wurde eine finnische Journalistin festgenommen, dann wurde ein russischer Journalist festgenommen – beim Fotografieren eines vermutlich von den "Kadyrowzi", Kadyrows Männer, angezündeten Hauses der Familie eines islamistischen Terroristen. Zuvor war ein Bus angezündet worden, in dem sich Menschenrechtler, russische und westliche Journalisten befanden, die auf einer Recherchereise waren. Selbst die Fahrer der Journalisten wurden befragt und bekamen Probleme.

Es ist auch nicht mehr ungewöhnlich, dass Drehmaterial und Ausrüstung beschlagnahmt werden. Vor kurzem musste das "Komitee gegen Folter", eine sehr bekannte russische Menschenrechtsorganisation, Tschetschenien verlassen, ihre Räume wurden angezündet. Diese Organisation war nach dem Mord an der Menschenrechtlerin Natalia Estemirova gegründet worden, es sind Anwälte, die als mobile Gruppe immer wieder wochenweise in Tschetschenien arbeiten und sich abwechseln.

Wie gestalteten sich die Dreharbeiten vor Ort?

Es ist interessant: Als Fernsehteam gerät man in eine ähnliche psychologische und moralische Zwickmühle wie alle Menschen, die dort ehrlich leben wollen. Als Team haben wir die Entscheidung getroffen, über unseren Dreh die Behörden offiziell zu informieren. Das ist eigentlich nicht nötig, denn wir haben eine Akkreditierung des russischen Außenministeriums und können ohne lokale Anmeldung überall in der russischen Föderation arbeiten, wozu eben auch Tschetschenien gehört. Doch Sicherheit geht vor – nach all diesen Vorfällen.

Beschattet werden wir so oder so. Wir arbeiteten mit einer einheimischen Menschenrechtlerin zusammen, die beste Kontakte zur Kadyrow-Regierung hat und für ihre Arbeit Geld verlangte. Und so gestalteten sich unsere Dreharbeiten wie jene des tschetschenischen Staatsfernsehens. Solange wir deren "Wahrheit" erzählen, ist alles kein Problem: Der scheinbar prächtige Wiederaufbau der Republik. Die patriotische Jugend. Wie gut Kadyrow mit reumütigen IS-Rückkehrern umgeht. Mir wurden Menschen präsentiert, die eindeutig Propagandawerkzeuge des Regimes sind. Nur: Hinter all diesen Bildern und Menschen steckt eine andere Wahrheit. Die Hochhäuser von Grosny-City sind fast leer. Der Wiederaufbau mit den Milliarden aus Moskau machte die Kadyrowzi reich, indem sie von den Milliarden-Subventionen viel in ihre eigene Tasche abzweigen und die Bevölkerung zwingen, bei sozialen Leistungen einen Teil an das Regime abzudrücken.

Von Moskauer Geldern erbaute Häuser wurden von Kadyrowzi weiter verkauft. Menschen werden gezwungen, für Kadyrow auf der Straße zu demonstrieren, weil sie sonst einen Lohnabzug bekommen. Und IS-Aussteiger können nicht erzählen, wie sie wegen Willkür, Sippenhaft und massiver Arbeitslosigkeit den Weg zum IS fanden – täten sie das, wären sie und ihre Familien in Lebensgefahr. Kadyrow erniedrigt auch gerne im Staatsfernsehen seine Kritiker. Einmal ließ er einen jungen Kritiker in Unterhosen auf einem Laufband filmen, dabei musste der Mann immer wieder sagen, dass er Putin, den Zaren, verehrt. Für ein Volk, dessen junge Männer zu traditionellen Werten wie Stolz und Unabhängigkeit erzogen werden, ist eine solche Erniedrigung das Schlimmste.

Sie facht einen großen – bislang heimlichen, unterdrückten – Zorn auf Kadyrow an. Über nichts dürfen sie reden: Nicht über die Gewalt von Ramsan. Nicht über Korruption und Erpressung. Noch nicht einmal erinnern dürfen sie sich - an das Leid des tschetschenischen Volkes in den gescheiterten Unabhängigkeitskriegen gegen Russland, an die im Krieg von Russen verschleppten Tschetschenen oder die Deportation des Volkes unter Stalin. Sie leben in Straßen, die die Namen russischer Generäle tragen, überall hängen Putin-Porträts, so viele wie in keiner Republik der Föderation. Es ist schizophren, paranoid.

Wie geht Ramsan Kadyrow mit Kritikern um?

Nur ein Beispiel: Im April beschwerte sich ein Dorfbewohner über die ärmlichen Zustände und die Korruption in seinem Dorf in Südost-Tschetschenien. Der Familienvater klagte, dass die Bevölkerung soziale Leistungen entweder nicht bekommt oder sie nur bekommt, wenn ein Teil davon an lokale Beamte abgedrückt wird. Diese Zustände sind ein typisches Problem in Tschetschenien. Der Mann wandte sich mit einer Videobotschaft direkt an Präsident Putin – nicht an Republikchef Kadyrow. Dann bekam er Probleme: Er musste mit seiner Familie ins benachbarte Dagestan fliehen, sein Haus wurde angezündet, sein Dorf von Sicherheitskräften umstellt. Die Kadyrowzi ließen den Dorfbewohner auch in Dagestan nicht in Ruhe.

Nach sechs Wochen brach er unter dem Druck zusammen: Er entschuldigte sich bei Kadyrow, die Augen nach unten gerichtet, er schäme sich, niemand solle denselben Fehler machen wie er. Kadyrov stellte dessen Video-Entschuldigung auf seine Instagram-Seite: Der Dorfbewohner sei nun auf dem "Pfad der Wahrheit". Eine subtile Warnung – sehr typisch für Kadyrows Umgang mit Kritikern. Die ganzen Wochen, in denen sich das Drama abspielte, konnten wir offiziell nicht in das Dorf. Als die Entschuldigung des Bewohners online war, teilte man uns plötzlich mit, dass wir das Dorf besuchen könnten, in Begleitung. Ich lehnte ab: Ich hätte zu diesem Zeitpunkt, nachdem das Dorf sechs Wochen lang von Sicherheitskräften umstellt war, nur die Wahrheit des Regimes gehört.

Kann ich einen ohnehin erniedrigten und erpressten Dorfbewohner auch noch im deutschen Fernsehen reumütig zeigen? Verletze ich nicht damit seine Menschenwürde? Ein unabhängiger russischer Kollege, der unter großer Gefahr und anonym vor einigen Wochen im Dorf gedreht hatte, stellte uns sein Material zur Verfügung. Er konnte gut dokumentieren, wie sich die Stimmung im Dorf unter dem Druck der Kadyrowzi veränderte: Zuerst stellten sich die Dorfbewohner solidarisch hinter den Kritiker. Dann schwärzten sie ihn an. Jetzt schweigen die meisten nur noch. Kadyrow prahlt nun damit, in dieses Dorf investieren zu wollen. Kadyrows Menschenrechtsbeauftragter brachte es in einem Interview mit uns auf den Punkt: "Wenn die Journalisten schon nicht über unsere schönen Häuser und Straßen berichten wollen, uns nicht loben wollen, dann sollen sie besser schweigen. Wie die Fliegen um den Mist kreisen, beschäftigen sie sich mit solchen Geschichten. Mit westlichen Geldern versuchen sie, im Verbund mit anderen, den Dorfbewohner zu manipulieren."


Präsident Putin kritisierte die Sippenhaft-Politik von Kadyrow. Sein Menschenrechtsrat besuchte diese Woche den Kaukasus – wie ging das aus?

Ja, ich hatte die Hoffnung, dass ich mit dem Eintreffen des Menschenrechtsrats von Präsident Putin in Grosny frei mit Menschenrechtlern und Bürgern ins Gespräch kommen könnte. Doch Ramsan Kadyrow verweigerte im letzten Moment ein Treffen mit einem Organ, das Putin selbst unterstellt ist. Das Programm und der Bürgerempfang wurden im letzten Moment abgesagt. Das hat sich bisher kein Republikchef geleistet! Erst im benachbarten Inguschetien konnte ich den Menschenrechtsrat treffen. Die wenigen Tschetschenen, die es dorthin gewagt hatten, um Hilfe zu bekommen, hatten große Angst, interviewt zu werden. Eine Frau erzählte, dass sie nach einem Fernsehinterview Probleme bekommen hat.

Ein russischer Kollege, der Tschetschenien gut kennt, bat mich, alle Gesichter später unkenntlich zu machen, da die in Europa sehr aktiven tschetschenischen Geheimdienstler sehr genau Medienberichte verfolgen. In Tschetschenien ist man als kritischer Bürger, kritischer Rechtsanwalt oder Menschenrechtler nie allein: Kadyrow macht für ein "Vergehen" die ganze Familie – oder ein ganzes Dorf – verantwortlich. "Verstehen Sie, wenn Kadyrow uns hier sieht, sind wir tot", sagte mir eine Tschetschenin. Ich machte ein langes Interview mit Igor Kalyapin, vom "Komitee gegen Folter", der lange in Grosny gelebt hat. Es war ein deprimierendes Gespräch. Kalyapin ist für Kadyrow eine Art Intimfeind geworden. Ihm sind die Hände gebunden, viel kann er nicht ausrichten, ich bezweifle ob es mehr ist als eine Art Rechtshilfe, weitere Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und eine ausführliche Dokumentation der Fälle.

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