Mo., 02.10.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Syrien: Sturm auf Rakka
Vier Jahre lang war die nordsyrische Stadt Rakka inoffizielle Hauptstadt des sogenannten islamischen Staates. Bärtige Kämpfer beherrschten das Leben und terrorisierten die Bevölkerung. Nun steht die endgültige Rückeroberung der Stadt unmittelbar bevor: Kurdische und arabische Truppen kämpfen am Boden, die internationalen Koalition aus der Luft. Mittendrin ein deutscher Arzt: Michael Wilk ist seit 2014 immer wieder in den Kurdengebieten Nordsyriens unterwegs. Er befürchtet, dass ein Ende des Kampfes noch lange kein Ende des Leidens bedeutet: Wenn zehntausende Geflüchtete in ihre Häuser zurückdrängen, drohen ihnen Verletzungen durch Minen und Sprengfallen, die der IS in der ganzen Stadt versteckt hat – als tödliches Souvenir der Terrorherrschaft. Volker Schwenck (ARD-Studio Kairo) hat den mutigen Arzt bei der Arbeit begleitet.
Man kann wohl sagen: der Mann hat wirklich Glück gehabt. Er hat eine IS-Sprengfalle überlebt. Der Wiesbadener Notarzt Michael Wilk kümmert sich um den Verletzten. Der OP: behelfsmäßig, in der Küche eines Wohnhauses eingerichtet. "Wir haben es ganz offensichtlich mit einer Minenexplosion zu tun", erklärt Michael Wilk, "Der Mann ist im unteren Bereich durchsiebt mit kleinen Splittern und hat mehrere große Verletzungen oben an der Schulter und am Kopf. Aber dafür, dass er an eine Mine geraten ist, geht es ihm relativ gut."
Der Verletzte wird vorläufig versorgt ins nächste Hospital gebracht. Mindestens zwei Stunden Autofahrt über schwer beschädigte Straßen stehen ihm bevor. Es gibt kein funktionierendes Krankenhaus in der Nähe.
IS hinterlässt Minen und Sprengfallen in Rakka
Der Kampf gegen den IS hinterlässt eine Schneise der Zerstörung. Tausende Bomben und Granaten der US-geführten Koalition, Autobomben und Mörser des IS haben Rakka in eine Trümmerwüste verwandelt. Michael Wilk kommt immer wieder nach Nordsyrien. Der deutsche Arzt unterstützt den Kurdischen Roten Halbmond. Der Kampf um Rakka geht langsam dem Ende zu, aber die Gefahr ist nicht vorbei. Der IS ist weitgehend vertrieben, hat aber überall Minen hinterlassen. "Vor ein paar Tagen hatten wir eine Familie, sechs Leute", sagt Sherwan Bery, Arzt vom Kurdischen Roten Halbmond, "Zwei haben nicht überlebt, und von den anderen haben einige mindestens ein Bein verloren."
Hier in den nördlichen Außenbezirken Rakkas soll bald ein neuer Vorstoß gegen den IS beginnen. Michael Wilk und sein kurdischer Kollege suchen einen sicheren Platz, an dem Verletzte versorgt werden können. Denn an die Opfer der Kämpfe denke kaum einer – kritisiert der Arzt. "Mich ärgert am allermeisten, dass die Kurdinnen und Kurden, die hier allen voran den IS rausschießen sollen, dass die die Köpfe hinhalten für Interessen, die auch die Interessen Amerikas zum Beispiel sind. Aber für die Zivilbevölkerung, die das dann auszubaden hat, als auch für die Kämpferinnen und Kämpfer wird eigentlich viel zu wenig getan. Man könnte auch sagen: die Leute werden benutzt", so Wilk.
Bleibt bloß in Deckung, signalisiert uns der kurdische Kämpfer. In den Ruinen seiner selbsterklärten Hauptstadt hat der IS Scharfschützen versteckt. Die sind gefürchtet von den syrisch-demokratischen Kräften, kurz SDF. Etliche sehr junge Männer, kaum erwachsen, sind unter den Bewaffneten. Das Bündnis arabischer und kurdischer Kämpfer wird von den US-Amerikanern trainiert. Der Krieg gegen den IS fordert einen hohen Preis.
Konfusion über zivile Opfer in der Stadt
Ein Pickup bringt Verwundete. Der Trupp ist bei einem Vorstoß ins IS-Gebiet in eine Sprengfalle geraten. Der Sanitäter kommt aus Schweden, ein Freiwilliger. Jetzt trägt er einen kurdischen Kampfnamen, seinen Geburtsnamen will er nicht veröffentlicht sehen. Was auffällt: anders als im irakischen Mossul sieht man im Kampfgebiet in Rakka keine Zivilisten. In drei Drehtagen an der Front nicht einen. Dabei seien durch Luftangriffe der Koalition allein im August mehr als 400 Menschen getötet worden, so glaubhafte Berichte.
"Das kann nicht stimmen," sagt der Schwede, der "Ciya Agir" genannt wird, "Bei so vielen Opfern hätten wir doch viele Leichen finden müssen. Wir sind immer ganz vorne an der Front unterwegs und ich habe keinen einzigen toten Zivilisten gesehen." Ein Widerspruch, der sich kaum auflösen lässt. Es gibt viele ausländische Freiwillige bei den SDF, Männer und Frauen. Dilan kommt aus Kanada. Seit mehr als zwei Jahren ist die junge Frau jetzt schon bei den Kurden. "Wir wollen einfach nicht warten, bis die IS-Terroristen in unsere Heimatländer kommen", erklärt die Kanadierin, "Die Kurden haben die Internationale Gemeinschaft um Unterstützung gebeten in ihrem Kampf gegen den IS, und darum sind wir ihnen zu Hilfe gekommen."
Wir verlassen Rakka, auf der Straße überall fliehende Zivilisten. Sie kommen aus Deir Ezzor. Michael Wilk ist unterwegs in ein Lager in der Nähe der Stadt. Die Schlacht um Rakka ist fast entschieden, die Hauptkämpfe haben sich jetzt hierher verlagert. An manchen Tagen kommen 1000 Menschen im Lager an. Fast alle sind Araber, keine Kurden, sie wollen nur raus aus der Kampfzone, weg vom IS, dessen Kämpfer sich zwischen Frauen und Kindern verstecken und Männer, die nicht kämpfen wollen, mit Gewalt an die Front zwingen.
Auch nach dem IS kein Frieden möglich
Der Kurdische Rote Halbmond betreibt eine von zwei mobilen Kliniken im Lager. Michael Wilk ist Arzt, aber auch politischer Aktivist. Er hegt Sympathien für die Ideen von PKK-Führer Öcalan, an denen sich die kurdische Selbstverwaltung hier orientiert. Ohne die Kurden, meint Wilk, ginge es den arabischen Flüchtlingen hier wirklich schlecht. "Ich war erst gestern in einem Krankenhaus-Neubau, da war ich im Februar gewesen", so Wilk, „Die sind jetzt schon weiter, das wird bald eröffnet, eine kleine Klinik. Das heißt, der IS bombt die Sachen weg, die Kurden und Kurdinnen bauen auf und das ist eine Sache, die einen hoffen lässt. Und das ganze noch mit einem Modell, wo Männer und Frauen gleichberechtigt sind, was hier sonst in der Gegend ja nicht zu finden ist. Das heißt: hier besteht Hoffnung in einer Wüste von Desaster." Hoffnung? Vielleicht für den Moment. Aber nicht auf ein Ende des Krieges in Syrien.
Abu Aref ist mit seiner Familie gerade vor den Kämpfen geflohen. Bald ist der IS aus Rakka und Deir Ezzor vertrieben, meint er. Aber viel besser wird es danach nicht. "Es gibt dann einfach neue Kämpfe. Zwischen Freier Syrischer Armee, den SDF oder dem Regime - jeder will das Land doch für sich selbst. Niemand will nachgeben, wir werden für lange Zeit keinen Frieden haben", so Abu Aref.
Das absurde Kalifat des sogenannten Islamischen Staates wird wohl bald untergehen. Aber ein Leben in Frieden und Sicherheit für die Menschen der Region ist trotzdem nicht in Sicht.
Stand: 31.07.2019 03:13 Uhr
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