SENDETERMIN So., 11.09.22 | 18:30 Uhr | Das Erste

Russland: Stadtfest und Stimmung

Russland: Wahlen in Russland. Stimmen und Stimmungen.
Russland: Wahlen in Russland. Stimmen und Stimmungen. | Bild: WDR / picture alliance / Zoonar / Andrey Omelyanchuk

Moskau feiert – die Stadt hat 875. Geburtstag. Und ist voller Bühnen, voller Musik, voller Fröhlichkeit. Nichts scheint die Stimmung zu stören, erstaunlicherweise. "Super Laune! Ich liebe diesen Feiertag! Bin Moskauerin, ich komme jedes Jahr hierher ins Zentrum", sagt eine Frau. Verderben Ihnen die Nachrichten nicht die Laune? "Es gibt ja unterschiedliche Nachrichten. Aber heute an diesem Feiertag wollen wir nur an Gutes denken und hoffen, dass immer alles so sonnig bleibt."

Es gibt kaum noch Opposition

Zeitgleich mit dem Stadtgeburtstag wird in Moskau und anderen Regionen gewählt. Mehrere Regionalparlamente und Gouverneursposten stehen zur Wahl. Seit einer Verfassungsänderung darf drei Tage gewählt werden. Den Manipulationen, sagt die Opposition, seien so Tür und Tor geöffnet. Aber Opposition gibt es eh kaum noch – nicht Mal auf der niedrigsten demokratischen Ebene.

Andrej Morjew gehört zur Jabloko-Partei. Vor der Wahl ging er täglich seine Runde. Nachschauen, ob die Plakate noch da sind: "Anfangs hingen unsere Plakate höchstens eine Stunde. Dann kamen irgendwelche Leute und rissen sie ab. Als wir das angezeigt haben bei der Polizei, sind sie zu einer neuen Technik übergegangen: sie haben einfach alles überklebt, immer mit den Plakaten der Regierungspartei."

Plakate überkleben – das ist noch das Harmloseste, was Opposition hier droht. Jabloko ist die einzig verbliebene echte Oppositionspartei. "Für den Frieden" steht im Schaukasten – schon im Juli war das riskant. Damals hatten wir Andrej Morjew kennengelernt, er traf sich mit seinem Wahlkampfteam. Im Café diskutierten sie offen über Politik – Lichtjahre scheint das jetzt entfernt. Andrej war Stadtteilabgeordneter für Jabloko. Und wusste da noch nicht, dass er nicht wieder antreten darf.

Mehrere Lokalpolitiker waren damals gerade erst verhaftet worden. Wir fragten Andrej, ob er keine Angst habe. "Natürlich habe ich Angst. Aber das ist mein Land, ich bin hier aufgewachsen, ich bin Moskauer in vierter Generation. Ich finde dieses Land ist es wert, ein starkes und gut entwickeltes Land zu sein. Eines, mit dem sich andere sich nicht nur deshalb verbünden, weil es ihnen droht. Sondern eines, dass man mag, weil es seinen Bürgern ein gutes Leben bietet."

 Unabhängige Informationen? Fehlanzeige.

Gutes Leben – das mehr ist als ein Stadtgeburtstag mit Animateuren und viel Patriotismus. Großes Thema auf dem Moskauer Fest ist der Donbass – mit Nachbauten berühmter Sehenswürdigkeiten. Der Fußballbrunnen von Donetsk, das Denkmal für ein Kanonenboot aus Mariupol. Der Krieg in der Ukraine ist präsent – und bleibt doch unausgesprochen. "Ich würde ungern vor der Kamera meine Meinung über den … Konflikt in der Ukraine sagen", sagt ein Mann. Fühlen Sie sich ausreichend informiert? "Nein. Nicht ausreichend. Wir denken, dass es auch eine andere Seite der Medaille gibt, über die wir wenig erfahren." Haben Sie genügend Information, um zu verstehen, was da passiert? "Mir genügt es. Ich schaue unsere offiziellen Nachrichten, die Chronik, wissen Sie. Das reicht mir", antwortet eine Frau.

Viel mehr Informationsquellen gibt es auch nicht mehr. Die Gerichte haben alles verboten. Eine der letzten war die Zeitung Nowaja Gaseta. Letzte Woche wurde ihr nach 29 Jahren in einem knappen Gerichtsverfahren die Lizenz entzogen. Chefredakteur Dmitrij Muratow hatte erst im Dezember den Friedensnobelpreis bekommen. Das Urteil hat ihn nicht gewundert: "Die sozialen Netzwerke sind entweder staatlich kontrolliert oder verboten worden. Es gibt keine Plattformen mehr für gesellschaftliche Diskussion. Nicht mal Instagram ist noch erlaubt. 138.000 Websites wurden blockiert. Faktisch alle unabhängigen Medien, vor allem die Investigativportale, sind aus dem Land gedrängt."

Andere Meinungen sind selbst auf lokaler Ebene unerwünscht. Andrej wurde Ende Juli von der Wahl ausgeschlossen, weil man einen Nawalny-Aufkleber auf seinem Auto fand. Den er selbst, sagt er, gar nicht angebracht habe. "Um kurz vor acht morgens waren Fremde hier auf unserem Hof, einer ging in Richtung meines Autos, sehr zielstrebig. Die Kameras im Hof haben das alles aufgezeichnet. Kurz darauf kam er zurück, man sieht, wie er telefoniert. Dann kommt er mit der Polizei zurück, sie gehen zu meinem Auto – und kurz darauf habe ich eine Anzeige."

Ein Nawalny-Aufkleber gilt als Werbung für eine extremistische Organisation. Andrej bekam 15 Tage Haft – und vorbei war es mit der Kandidatur. Wählen geht er heute trotzdem.

Autorin: Ina Ruck /ARD Studio Moskau

Stand: 11.09.2022 19:43 Uhr

0 Bewertungen
Kommentare
Bewerten

Kommentare

Kommentar hinzufügen

Bitte beachten: Kommentare erscheinen nicht sofort, sondern werden innerhalb von 24 Stunden durch die Redaktion freigeschaltet. Es dürfen keine externen Links, Adressen oder Telefonnummern veröffentlicht werden. Bitte vermeiden Sie aus Datenschutzgründen, Ihre E-Mail-Adresse anzugeben. Fragen zu den Inhalten der Sendung, zur Mediathek oder Wiederholungsterminen richten Sie bitte direkt über das Kontaktformular an die ARD-Zuschauerredaktion: https://hilfe.ard.de/kontakt/. Vielen Dank!

*
*

* Pflichtfeld (bitte geben Sie aus Datenschutzgründen hier nicht Ihre Mailadresse oder Ähnliches ein)

Kommentar abschicken

Ihr Kommentar konnte aus technischen Gründen leider nicht entgegengenommen werden

Kommentar erfolgreich abgegeben. Dieser wird so bald wie möglich geprüft und danach veröffentlicht. Es gelten die Nutzungsbedingungen von DasErste.de.

Sendetermin

So., 11.09.22 | 18:30 Uhr
Das Erste

Produktion

Westdeutscher Rundfunk
für
DasErste