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Niederlande: Sterbehilfe für Kinder

Niederlande: Sterbehilfe für Kinder  | Bild: WDR

Jolanda hat lange überlegt, ob sie ihre Geschichte öffentlich erzählen möchte. Weil sie schmerzhaft ist – und weil es für die meisten Menschen wohl kaum nachvollziehbar ist, wenn eine Mutter ihrem eigenen Kind einen schnellen Tod wünscht. "Sie hat nur noch geschrien, immer weiter und weiter. Das ging einem durch Mark und Bein", erzählt sie. Heute, fast zehn Jahre nach dem Tod ihrer Tochter, kann Jolanda darüber sprechen: "Das ist Dagmar! Dagmar konnte nicht sprechen, aber sie sprach mit den Augen."

Im Alter von vier Wochen bekommt Dagmar zum ersten Mal einen epileptischen Anfall. Sie leidet unter CD-KL5, einer sehr seltenen genetischen Erkrankung. "Die ersten Jahre ging es eigentlich noch ganz gut. Aber später wurde es dann viel heftiger. Sie hat viel mehr geweint und hatte starke Schmerzen. Sie hatte manchmal hunderte Anfälle am Tag. Tag und Nacht", erzählt ihre Mutter. Einen Tag vor ihrem neunten Geburtstag stirbt Dagmar schließlich an den Folgen der Krankheit. Die Zeit davor sei unmenschlich gewesen, erzählt Jolanda. Ihre Tochter habe stärkste Schmerzen gehabt. Die verschriebenen Schmerzmittel halfen nicht mehr: "Das ist eigentlich ein großer Widerspruch. Einerseits wollen Sie, dass Ihr Kind Frieden findet, aber Sie wollen Ihr Kind natürlich auch nicht verlieren."

Frieden finden, damit meint sie "sterben". Was sich Jolanda damals für ihre Tochter gewünscht hat, wird in den Niederlanden wohl bald möglich sein. Als letztes Mittel sollen Eltern die Entscheidung treffen dürfen, ihr todkrankes Kind durch eine Spritze sterben zu lassen, um so das Leiden des Kindes zu beenden. Diese Regelung soll ab nächstem Jahr gelten für Kinder zwischen einem und 12 Jahren. Ab 12 Jahren gilt das bisherige Sterbehilfegesetz.

Die neue Regelung betrifft nur wenige Kinder

Niederlande: Die neuen Regeln treten ab Februar in Kraft.
Niederlande: Die neuen Regeln treten ab Februar in Kraft. | Bild: WDR

Eduard Verhagen ist Kinderarzt in der Uniklinik Groningen – und einer der bekanntesten Vorkämpfer im Land für die "aktive Lebensbeendigung" - wie die Befürworter:innen sagen. "Die Kriterien dafür sind hoffnungsloses und unerträgliches Leiden, eine klare Diagnose – es darf kein Zweifel an der Diagnose bestehen. Dann die Einwilligung der Eltern, beide Eltern müssen zustimmen. Und – und das ist sehr wichtig: Die Krankheit muss eine Krankheit sein, von der wir wissen, dass sie sehr bald zum Tode führt", erklärt der Kinderarzt.

Außerdem müssten vorher sämtliche Möglichkeiten der Palliativmedizin ausgeschöpft werden, sagt Verhagen. Erst dann würden die beteiligten Ärzte überhaupt in Erwägung ziehen, das tödliche Medikament zu verabreichen. Befürworten sie diesen Schritt, liege die endgültige Entscheidung bei den Eltern. "Die Eltern kommen zu uns und fragen, was würde passieren, wenn das Leiden unseres Kindes trotz aller Bemühungen sehr schlimm und unbehandelbar wird. Stand jetzt muss der Arzt sagen, dass man es akzeptieren muss", sagt Eduard Verhagen und fügt hinzu: "Aber mit der neuen Regelung haben Eltern immer noch die letzte Möglichkeit, das Leben des Kindes zu beenden. Und in sehr seltenen und extremen Situationen mögen sie sich für die Option entscheiden."

Verhagen schätzt, dass höchstens fünf Kinder pro Jahr so schwer erkranken, dass ihre Eltern künftig die neue Regelung in Anspruch nehmen könnten. Politischen Gegenwind gibt es für das Vorhaben in den Niederlanden kaum. Im Regierungskabinett wurde die neue Regelung auch mit den Stimmen konservativer und christlicher Parteien beschlossen. Aus Barmherzigkeit, sagt der Medizinethiker Theo Boer. Er selbst ist dagegen einer der wenigen aber lauten Kritiker im Land: "Aktive Sterbehilfe gibt es nur auf ausdrückliche Bitte des Patienten. Da waren wir uns jahrzehntelang einig. Und jetzt plötzlich durchbrechen wir diesen Konsens und sagen: Gut, man darf auch Patienten töten, die nicht selber darum bitten können."

Kritiker:innen befürchten eine potenzielle Ausweitung der neuen Regelung

Bislang muss die leidende Person den Sterbe-Wunsch ausdrücklich äußern. Bei der neuen Regelung für Kinder unter 12 Jahren dürfen die Eltern über Leben ihres Kindes entscheiden. Und womöglich, so befürchtet der Kritiker Boer, könnte dieser Ansatz später auch auf Erwachsene ausgeweitet werden, die ebenfalls keinen Sterbe-Wunsch mehr äußern können. Zum Beispiel Demenzpatienten: "Wenn man den Weg eröffnet, zur Tötung von Patienten, die nicht selber darum bitten können, sondern es sind andere, dann habe ich Angst, dass wir schließlich dann doch in die Richtung von 1941/42 kommen. Nämlich wo andere Leute entscheiden, ob ein Leben lebenswürdig ist."

Außerdem wisse man viel zu wenig über das Leiden von Kindern, wenn die aufgrund ihren schweren Krankheit gar nicht mehr ansprechbar sind. "Ein Kind in der Sterbephase kann alles Mögliche haben. Es kann Übelkeit, Juckreiz, Unbehagen, Angst oder Verwirrtheit sein. Und wenn man nicht weiß, welche Symptome man bekämpfen soll, dann kann man auch nicht dagegen ankämpfen", sagt Ilse Zaal-Schuller vom Verband der Ärzte für Menschen mit geistigen Behinderungen. Alle, mit denen wir für diesen Film gesprochen haben, betonen, dass niemand ein Kind leiden lassen möchte.

Was aber der beste Weg in einer fast ausweglosen Lage ist, hängt von der jeweiligen Perspektive ab. Jolanda erzählt uns noch: die neue Regelung mache es möglich, endlich offen über ein Tabu-Thema sprechen zu können. Für Eltern, die ihr schwerkrankes Kind leiden sehen und ihm nicht mehr helfen können, sei das ein wichtiger Schritt: "Wenn ich an Dagmar zurückdenke, dann war es ihr nicht vergönnt, zu leben. Aber es war ihr auch nicht vergönnt, friedlich zu sterben. So etwas will man nicht erleben. Durch die neue Regelung entsteht viel mehr Offenheit. Man kann besser über dieses Thema sprechen. Und das ist etwas Gutes."

Die neue Regelung wird voraussichtlich ab 1. Februar in den Niederlanden gelten.

Autor: Tobias Reckmann / ARD Brüssel

Stand: 17.12.2023 23:32 Uhr

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