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China: Millionen Kinder von ihren Eltern zurückgelassen

China: Millionen Kinder, von ihren Eltern zurückgelassen | Bild: ARD

Die kleine Jin Han hätte gerne die Mutter an ihrer Seite. Aber es ist ihre Oma Fu, die sie und ihre Cousine jeden Morgen zum Kindergarten bringt. Viele Jungen und Mädchen teilen Jin Hans Schicksal. Die Eltern sind fortgezogen in die großen Städte, um Geld zu verdienen. 

Eltern arbeiten 1.200 Kilometer entfernt

Vater Yong Qiang und Mutter Cheng Wei
Vater Yong Qiang und Mutter Cheng Wei sehen ihre Kinder nur ein Mal im Jahr.  | Bild: NDR

1.200 Kilometer entfernt vom Kindergarten arbeiten Jin Hans Eltern in einem Imbiss-Restaurant. Mutter Cheng Wei füllt Teigtaschen, kellnert – und ist in Gedanken bei ihrer Tochter und dem zwölfjährigen Sohn. Ihr Mann Yong Qiang ist Koch. Sie vermissen ihre Kinder, machen sich jeden Tag Sorgen, ob es ihnen gut geht. "Meine Tochter sagt am Telefon oft: 'Mama, ich vermisse dich. Wann kommst du wieder?' Und sie möchte Geschenke haben, auch Snacks, Kleidung und solche Sachen", sagt Cheng Wei.

Jin Han ist fünf Jahre alt. Den Vater hat sie kaum gesehen, die Mutter zog hinterher, als das Mädchen zwei war. In ganz China sind es mehrere Millionen Kinder, die von Kindergärtnerinnen, Lehrern und vor allem von den Großeltern erzogen werden. Die Familien zahlen einen hohen Preis für den Traum von mehr Wohlstand. "Kinder, die von ihren Eltern aufgezogen werden, sind in der Regel aufgeschlossener. Sie sagen, was sie denken, und setzen das auch um. Und sie trauen sich mehr zu. Kinder, die bei Großeltern aufwachsen, sind hingegen manchmal langsamer, da sie die Großeltern in vielem imitieren", erkklärt Kindergärtnerin Gu Xinhua.

Kinder bleiben in den Dörfern bei den Großeltern

Oma Fu mit ihren Enkelkindern
Oma Fu kümmert sich um ihre Enkelkinder.  | Bild: NDR / Mario Schmidt

In Chinas Dörfern fehlt oft eine ganze Generation. Die Jungen suchen in den Metropolen Chancen, die es hier nicht gibt. Ihre Kinder lassen sie zurück bei den Alten.
Nur eine Woche im Jahr ist Jin Han mit ihren Eltern zusammen und hat ein Familienleben, wie sie es sonst nur bei anderen Kindern sieht. Sie muss sich zufrieden geben mit Telefonanrufen am Abend, ein schwacher Trost.  Mit dem Geld des Sohnes aus Peking konnte die Familie das Haus umbauen. Großmutter Fu hat selbst drei Kinder, nun kümmert sie sich um deren Kinder, ihre Enkel. Die kleine Jin Han frage immer wieder, warum andere ihre Mutter bei sich hätten, und sie nicht. Dann erklärt ihr die Oma, dass ihre Mutter in Peking Geld verdiene. Manchmal würde die Kleine dann weinen. "Kinder brauchen die Fürsorge ihrer Eltern, sie hören auf ihren Vater und die Mutter. Egal, wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann die Eltern nicht ersetzen. Und manchmal hören sie auch nicht auf mich", sagt Jin Hans Oma.

Chinas Völkerwanderung von den Dörfern in die Städte

Fu Lian zhi beklagt sich nicht, sie ist 62, noch sei es ihr nicht zu viel, Hauptsache jemand kümmere sich um die Kleinen. Auch das Kind ihrer Tochter wächst bei ihr auf. Doch beim Lernen ist die Großmutter keine große Hilfe. Sie kann kaum lesen, viele Ältere auf dem Land haben wenig Schulbildung. Jin Han und ihre Cousine sind beim Lernen schon auf sich allein gestellt.

Frau Fu ist froh, wenn Ihr Mann abends von der Arbeit kommt, dann hat sie Unterstützung. Auch der Bruder der kleinen Jin Han ist von der Schule zurück. Cheng Long möchte Pilot werden. Die Eltern im fernen Peking vermisst er jeden Tag.   

Jin Han und ihre Cousine machen Hausaufgaben.
Jin Han und ihre Cousine sind beim Lernen schon auf sich allein gestellt.  | Bild: NDR / Mario Schmidt

In den Metropolen gibt es viele einsame Väter und Mütter, die bei Chinas Völkerwanderung von den Dörfern in die Städte ihre Kinder zurückgelassen haben. Chen Wei und ihr Mann leben in Schlafräumen ohne Privatsphäre, deshalb möchten sie nur bei der Arbeit gefilmt werden. Da sich Chinesen nicht einfach ummelden können, dürften die Kinder in Peking keine öffentliche Schule besuchen, sondern nur die schlechter ausgestatteten Schulen für Wanderarbeiter. Das kommt für das Ehepaar nicht in Frage: "Wir haben darüber nachgedacht zurückzugehen, aber mit den Schulen ist es für unsere Kinder hier schwieriger. Niemand kann sie bringen und abholen. Zuhause kümmern sich die Großeltern um sie, das ist für uns beruhigender", sagt Chen Wei.

Warten auf die Eltern

"Es geht nicht allein um die Gegenwart, sondern auch um unser Leben in der Zukunft. Unser Sohn ist in zehn Jahren Mitte 20, er wird viel Geld brauchen, um zu heiraten und eine Wohnung zu finden. Und meine Eltern werden dann über 70 sein, ich muss vorsorgen, falls sie dann Hilfe brauchen für Medikamente zum Beispiel", sagt Vater Shang Guang Yong Qiang.

Ungestört können sie nur auf der Straße telefonieren. Fast jeden Tag rufen sie bei ihren Kindern an: Was machst Du fragt die Mutter, ich gucke Fernsehen, sagt die Tochter. Immer geht es um die Schule, ob sie fleißig sind. Die Eltern hoffen, dass sie mit guter Bildung Chancen auf ein besseres Leben haben. Im Dorf sagt ihr zurückgelassener Sohn Cheng Long, was er sich am meisten wünscht: "Ich möchte gerne nach Peking und ein paar Tage mit meinen Eltern verbringen."

Großmutter Fu wünscht sich, dass ihre Enkel einmal auf die Universität gehen, viel Geld verdienen und gute Menschen werden. Sie möchte ihnen dabei helfen, so gut sie kann. Im Februar, zum chinesischen Neujahrsfest, kommen endlich die Eltern, dann sind sie wieder eine richtige Familie – für eine Woche, einmal im Jahr.

Autor: Mario Schmidt, ARD-Studio Peking

Stand: 10.07.2019 07:45 Uhr

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