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Kolumbien: Dörfer des Vergessens

Kolumbien: Dörfer des Vergessens | Bild: SWR

Belmiro, ein kleines verträumtes Bergdörfchen in Kolumbien. Jahrhundertelang glaubte man hier an einen Fluch. Ein Fluch, der Menschen "verblöden" lässt. Seit einigen Jahren aber hat das, was sich hier massenweise ereignet, einen Namen: Alzheimer. In Belmiro und einer Handvoll Nachbardörfern sind 25 Großfamilien und über 1.000 Menschen von einem mutierten Gen betroffen, das Alzheimer auslöst.

Und so tragisch das für die Einwohner ist, bietet genau dieses Gen der Wissenschaft eine einzigartige Chance. Zum ersten Mal weiß ein Forscherteam aufgrund akribischer Analysen, wer in den Gemeinden in Zukunft mit Sicherheit erkranken wird. Und so kann das Team fast wie im Labor erforschen, womit sich die Krankheit bekämpfen lässt. In wenigen Jahren – so die Hoffnung – könnte der Schlüssel gefunden sein.

Über die Dörfer des Vergessens: Eine Reportage von Xenia Böttcher (ARD-Studio Mexiko).

"Wo sind wir?" fragt Aicardo. "Wo wir sind? Bei dir zu Hause", antwortet Omeira. Wir sind zu Hause bei Aicardo und seinem Freund im Spiegel. "Und mit wem lachst du jetzt?" fragt Omeira. "Was lachst du? Mit wem? Ich weiß nicht mit wem er jetzt lacht." Und Omeira erzählt: "Es ist mir aufgefallen da war er ungefähr 45 alt. Jetzt hat er das, was sein Vater auch hatte. Jetzt hat ihn Alzheimer erwischt. Er hat geweint als er die Diagnose bekam. Wir waren alle sehr traurig."

Ein Gen verursacht Alzheimer

Familienmitglieder in Küche beim Essen
Das Alzheimer-Gen wird seit Generationen in der Familie weitervererbt. | Bild: SWR

Geschwistertreffen zum Mittagessen. Aicardo trägt ein Gen in sich, das Alzheimer verursacht, ein Gen, das seit Generationen in seiner Familie weitervererbt wird. Der Vater ist an Alzheimer gestorben, zwei Brüder, eine Schwester liegt im Sterben. Alle erkrankten ungewöhnlich früh mit etwa 40 Jahren. Aicardos Geschwister hier sehen gesund aus, doch jeder könnte das Gen in sich tragen. Die Wahrscheinlichkeit beträgt 50%. Wer das Gen trägt wird unweigerlich erkranken. "Ganz ehrlich, wenn wir nicht krank werden, ist es so etwas wie der große Preis", sagt Otalbaro, der Bruder von Aicardo.

Alzheimer. Heute hat die Krankheit einen Namen. Aber Jahrhundertelang glaubte man im Berg-Dörfchen Belmira an einen Fluch, der Menschen "verblöden" lässt. Denn nicht eine, nein unzählige Familien waren betroffen. Francisco Lopera von der Universität Antioquia in Medellín erfährt von den erstaunlich vielen Menschen, die erstaunlich früh am "Vergessen" erkranken. "Am Anfang waren wir einfach neugierig, uns war gar nicht klar, was das alles bedeuten könnte. Aber eines war glasklar: das hier ist sehr wichtig."

25 Großfamilien sind betroffen

Mediziner vor Bildschirm
Die Forscher suchen nach Möglichkeiten, Alzheimer zu bekämpfen.  | Bild: SWR

Loperas Team recherchiert akribisch hunderte Jahre zurück, durchforstet Sterbeurkunden, befragt Pfarrer und Familien – bringt die Dimension der Erkrankung ans Licht: "Die hier war krank, die verstarb krank, der hier nicht, die hier ja", erklärt Lucia Madrigal vom Institut für Neurophysiologie der Universität Antioquia. 25 Großfamilien, über 1.000 Menschen in einer Handvoll Dörfer sind von einem mutierten Gen betroffen, das Alzheimer auslöst. "Wann hört das auf! Man zieht am Faden und es werden mehr und mehr und mehr. Ich sage: wir haben Pandoras Box geöffnet", sagt Lucia Madrigal vom Institut für Neurophysiologie der Universität Antioquia.

Die Entdeckung macht die Mediziner betroffen und doch bietet sie für die Wissenschaft eine einzigartige Chance: Zum ersten Mal weiß ein Forscherteam wer in Zukunft erkranken wird. Es gibt so viele Betroffene auf engstem Raum wie weltweit nirgendwo sonst. So kann das Team unter wissenschaftlich besten Bedingungen erforschen womit sich Alzheimer bekämpfen lässt.

Warten auf die Ergebnisse der Wissenschaft

"Wir können Erfolg haben, oder wir können scheitern", sagt Fransciso Lopera vom Institut für Neurophysiologie der Universität Antioquia. "Gleichwie – beide Ergebnisse sind für die Wissenschaft hochinteressant. Wenn wir erfolgreich sind, sind wir auf dem Weg zu einer Lösung". Wo im Gehirn liegt der Schlüssel zu Alzheimer? Die Forscher glauben, dass eine bestimmte Ablagerung die Nerven im Gehirn zerstört. In ihrer Studie testen sie, ob sich die Bildung der Ablagerung behindern oder stoppen lässt.  Das wäre ein Durchbruch. Wie zerstörerisch die mikroskopisch winzige Ablagerung wirkt? Ein Einblick. Hier ein gesundes, da ein erkranktes Gehirn. "Man sieht den Unterschied deutlich: Das erkrankte Gehirn wiegt 600 Gramm. Das gesunde etwa doppelt so viel", erklärt David Aguillon vom Institut für Neurophysiologie der Universität Antioquia. Da versteht man schon mit einem Blick, was die Patienten erleiden, bei diesen schwerwiegenden Schäden. "Wenn man es umdreht wieder der Unterschied: hier hat sich eine Art Hohlraum gebildet – hier ist das alles kompakt."

Dorf Belmira aus der Luft
Im Bergdorf Belmira sind viele Familien von Alzheimer betroffen.  | Bild: SWR

Zurück nach Belmira – eine Fahrtstunde von Medellín. Regelmäßig besucht das Mediziner-Team die betroffenen Familien. Sie alle wollen an der Erforschung mitwirken, helfen die Krankheit zu bekämpfen. Für Aicardo wird ihre Forschung zu spät kommen, aber sie könnte seinem Sohn helfen – oder dessen Kind, das gerade auf dem Weg ist: "Ich will gar nicht daran denken, es wird ein gesundes Kind, mit Gottes Hilfe", sagt Johanna.

Alzheimer – bislang gibt es kein Mittel gegen die Krankheit. Die Wissenschaft blickt hoffnungsvoll hierher zu den Betroffenen in Kolumbien. In etwa zwei Jahren stehen die ersten Studienergebnisse fest: "Ich wäre gerne dabei. Schon mal allein für die Familien. Klar, das wäre schon ein Traum, aber es könnte ein Fenster zu weiteren Studien sein, um die Krankheit heilen zu können oder für eine Prävention. Das ist das Ziel. Das wär's, ich wäre gerne dabei, wenn das gelingt, hoffentlich." Vielleicht gelingt er ja tatsächlich hier, der Durchbruch im Kampf gegen die heimtückische Krankheit Alzheimer.

 

Stand: 14.07.2019 16:20 Uhr

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