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Japan: Hikikomori – Einsamkeit in der modernen Gesellschaft

Japan: Hikikomori – Einsamkeit in der modernen Gesellschaft | Bild: SWR

Eine Million erwachsene Männer und Frauen – so schätzt man – haben sich in Japan in ihren Kinderzimmern eingeschlossen, gehen nicht mehr unter Menschen. Ein Leben auf wenigen Quadratmetern. Teils aus Scham, weil sie z. B. keinen Job haben, teils aus Angst vor Menschenmassen. Ein Phänomen, das nirgendwo so ausgeprägt ist.

Deshalb gibt es in Japan dafür ein eigenes Wort: Hikikomori, übersetzt heißt das: "die, die sich einschließen". Eine ehemalige Krankenschwester versucht, mit ihrer Organisation, ihnen einen Weg zurück in die Gesellschaft zu bahnen.

Hikikomori und die Einsamkeit in modernen Gesellschaften, dazu gibt es auch den Podcast "Weltspiegel Thema: Allein in der Masse – was bedeutet Einsamkeit?"

Tokio – die Megastadt. 15 Millionen Einwohner. Lebendig und schrill. Für manche aber ist Tokio zu viel: zu viel Mensch, zu viel Lärm. Zu viel von allem. Sie gehen nicht mehr vor die Tür. Sie bleiben nur noch zu Hause. Heute und morgen. Für ein Jahr oder für Jahrzehnte.

Straßenszene Tokio
Für mache Japan zu laut und schrill: Tokio  | Bild: SWR

Ogatake ist einer der sich zurückgezogen hat. Vor 15 Jahren hat er beschlossen, drinnen zu bleiben und sein Zimmer fortan nur noch gelegentlich zu verlassen. "Ich habe damals angefangen, französisch zu lernen. Und der Lehrer fragte immer: "Na, was habt ihr diese Woche gemacht? Weil ich keinen Job hatte, konnte ich nicht viel erzählen. Ich konnte kein Gespräch führen. Und so habe ich mich immer weiter zurückgezogen."

Leben in einer Schattenwelt

Menschen wie Ogatake heißen in Japan Hikikomori: "Die, die sich einschließen.” Wochenlang verbringen sie hinter geschlossenen Türen. Mit Internet, Handy, Videogames. Sie fliehen vor dem Druck in der Schule oder auf der Arbeit in ihre eigene Welt. "Ich kenne diesen Blick aus dem Fenster schon seit 35 Jahren. Manche sagen, ein schöner Blick. Aber wenn es mir schlecht geht, dann sehe ich nur noch alles wie grau verschleiert."

Mehr als eine Million Hikikomori soll es in Japan geben und vielleicht noch viel mehr. Denn: Sie leben in einer Schattenwelt. Aus Angst vor der Welt. Dem eigenen Versagen. Der japanischen Gesellschaft, die dem Andersartigen seit jeher misstraut. Oft finden sie ohne fremde Hilfe nicht mehr hinaus ins Leben.

Vier Personen am Tisch
Die Hilfsorganisation Hidamari möchte einen Ausweg aufzeigen | Bild: SWR

Miho Goto will den Hikikomori zur Seite stehen. Vor fünf Jahren hat die gelernte Krankenschwester die Hilfsorganisation Hidamari ("Der warme Ort") gegründet. Das Ziel: die Hikikomoris aus ihrer selbstgewählten Isolation zu befreien. "Wir müssen vor allem Vertrauen aufbauen", sagt Miho Goto. "Unser Ziel ist, unseren Patienten eine Arbeit zu besorgen. Aber davor kommen viele kleine Schritte. Jemand, der nie aus dem Haus geht, mit dem versuchen wir spazierzugehen oder dass er anfängt, mit den Eltern zu sprechen. Dass er eine Routine in den Alltag bekommt."           

Die Eltern leiden mit

Das ganze Drama der Hikikomoris wird den Japanern vor ein paar Wochen wieder schlagartig bewusst. Bei Tokio greift ein Hikikomori eine Schülergruppe an und tötet unter anderem ein junges Mädchen. Tage später ersticht der Vater eines Hikikomoris seinen eigenen Sohn. Er fürchtet, auch der könnte bald gewalttätig werden. Eine Verzweiflungstat, die die Hikikomoris in Zukunft womöglich noch weiter ausgrenzen. "Solche Einzelfälle könnten dazu führen, dass die Mitmenschen Angst bekommen", meint Miho Goto. "Und dass dann die Eltern von Hikikomoris nicht mehr offen über ihr Kind sprechen wollen und ihre Sorgen nicht mehr teilen. Das würde es noch schwieriger machen zu helfen." Umso wichtiger die Arbeit von Hidamari. Goto und ihre Mitarbeiterinnen verstehen sich als so etwas wie große Schwestern für die verzweifelten Männer.

Kensuke und Daisuke wollen nicht erkannt werden. Dass sie den Weg aus ihrem Zimmer überhaupt geschafft haben zu einem Beratungsgespräch, ist allein schon ein Erfolg. "Also auf einer Skala von 1 bis 10 fühle ich mich heute wie minus 3", klagt Kensuke. "Es ist heiß und stickig. Und ich habe schlechte Laune". Und Daisuke sagt: "Wenn ich allein in meinem Zimmer bin, dann denke ich nur, wie komme ich hier raus. Und wie schaffe ich es, dass ich meinen Eltern nicht mehr zur Last falle." Die Eltern von Hikikomoris leiden oft genauso mit. Vor allem aus Scham. Öffentlich einzugestehen, womöglich noch vor unserer Kamera, dass das Kind keinen Job hat und keine Freunde – es wäre vielen peinlich. Vielmehr helfen viele Eltern bewusst mit, ihre Kinder zu verstecken. Vor den Nachbarn und vor dem Gerede.

Wie finden die Hikikomoris den Weg zurück in die Welt?

Es war schon immer so in Japan: Menschen, die anders sind, finden schwer einen Platz in der Gesellschaft. Außer in ihren eigenen vier Wänden. Wie ausbrechen aus der selbstgewählten Isolation? Auch für Ogatake, der inzwischen 40 ist, wird die Frage nach der Zukunft immer drängender.

Junger Mann steht an Balkontür seiner Wohnung
Viele Japaner ziehen sich in ihre Wohnung zurück | Bild: SWR

"Ich habe die größte Sorge vor dem ersten Schritt", sagt Ogatake. "Das allein ist schon so schwer für mich. Sollte ich mein Zuhause verlassen und meinen Vater, der mich bisher umsorgt? Wenn ich für mich bin, vielleicht sehe ich dann endlich klarer, wie ich mein Leben leben möchte." Es wäre so einfach, vor die Tür zu treten. Für Hikikomoris aber braucht es enorme Kraft, endlich diesen einen Schritt zu tun. Den Weg zurück in die Welt dort draußen.

Philipp Abresch, ARD-Studio Tokio

Stand: 23.07.2019 13:08 Uhr

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