So., 28.08.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Italien: Sahars Flucht nach Venedig
Wenn Sahar traurig ist oder verzweifelt, wenn sie schlechte Nachrichten aus Afghanistan erhält, dann kommt sie hierher. Die Weite der Welt vor Augen. Schlechte Nachrichten sind meist die einzigen Nachrichten, die sie aus ihrer Heimat erreichen.
Warum ich Sahar kenne? Weil ich vor genau einem Jahr schon einmal in Venedig war, um mit Hamed, Sahars erfolgreichem Bruder, über seine Restaurants in dieser schönen Stadt zu sprechen. Doch plötzlich brach er auf dem Boot in Tränen aus. Er fürchtete seine Schwester Sahar könnte von den Taliban getötet werden. Sahar flieht, es sind dramatische Szenen, die sie drei Tage am Flughafen von Kabul erleben muss, bis sie mit viel Glück auf eine italienische Maschine kommt.
Sahar denkt viel an ihre Heimat
Ein Jahr später – ich besuche die Geschwister in Venedig. Mit Sahar habe ich, seit sie Kabul verlassen hat, Kontakt. Sie ist noch immer traumatisiert, fühlt sich oft gelähmt, weint viel. Inzwischen arbeitet sie im Restaurant ihres Bruders. Orient Experience – ein Restaurant in dem Hamed nur Flüchtlinge einstellt, ihnen eine Chance gibt, in Venedig anzukommen, wie auch seine Schwester Sahar. "Dass ich hier arbeite, hat mir geholfen, aus meiner depressiven Stimmung ein wenig rauszukommen. Es erinnert mich an die Arbeit in meinem eigenen Restaurant in Kabul", erzählt sie.
"Willst du davon Bilder sehen?", frage ich Sahar. Und erzähle ihr, dass ich in ihrem Restaurant in Kabul war, 100 Tage nach Machtübernahme der Taliban. "Ich habe ein Restaurant aufgebaut. Ok, ich habe zumindest das geschafft, eröffnen konnte ich es nicht mehr. Aber was ist mit all den Mädchen und Frauen in Afghanistan, deren Wünsche und Hoffnung jetzt nicht erfüllt werden können. Es fühlt sich so an, als würde dein Körper weiterleben, aber deine Seele ist tot. Wenn dein Geist stirbt und deine Wünsche, dann bist du eigentlich schon tot", sagt Sahar.
Sahar war selbst Restaurantbesitzerin, jetzt ist sie angestellt. Das ist manchmal nicht einfach. Und sie hat ein neues Ziel: Sie möchte in Italien Chefköchin werden. In Venedig hat sie bereits einige Chefköche kontaktiert. Die Resonanz war positiv. "Habe ich das alles verdient?", fragt sie sich immer wieder, wenn sie die Nachrichten aus Kabul hört: "Ich habe so ein schlechtes Gewissen. Wir gehen alle aus Afghanistan raus. Wer soll dieses Land dann aufbauen, mit welcher Hoffnung. Es sind die Hilflosen geblieben, die zu arm sind oder nicht einflussreich genug oder eine mangelnde Bildung haben. Das Land ist jetzt diesen Menschen überlassen. Wie soll da was besser werden."
"Ist es überhaupt noch möglich, dass Frauen in Afghanistan die Chance auf ein Leben haben – jeden Tag bitten dich Frauen um Hilfe?", fragt Reporterin Natalie Amiri und Sahar antwortet: "Willst du, dass wir eine anrufen? Dann fragen wir sie selbst nach ihren Problemen." Diejenige, die wir anrufen, möchte aus Sicherheitsgründen ihren Namen nicht genannt haben. Mit 13 Schwestern wohnt sie in Kabul: "Nach einem Jahr habe ich das Gefühl, ich existiere nicht mehr. Ich darf nicht studieren, ich darf meine Kleidung nicht selbstständig wählen. Wie wenn ein Vogel im Käfig eingesperrt ist und nicht fliegen darf, genauso fühlen wir uns."
Inzwischen gehen sie in eine Burka verhüllt vor die Tür – aber nur selten, denn die Taliban sagen, Frauen sollten nur mit einem triftigen Grund das Haus verlassen. "Bist su selbst schon mal auf die Straße gegangen oder seine Schwestern und hast an den Protesten von Frauen gegen die Taliban teilgenommen, um deine Rechte zu verteidigen?", fragt Sahar und das Mädchen antwortet: "Wir wollten, aber als wir gesehen haben, was die Taliban mit den Demonstrantinnen machen, sie auspeitschen und bestrafen, hat es uns unser Vater verboten."
Wie sieht Sahars Zukunft in Italien aus?
Manchmal bekommt Sahar kaum noch Luft, erzählt sie uns, dann geht sie raus, läuft (ziellos) durch die Gassen Venedigs. In letzter Zeit sprechen die Menschen immer häufiger darüber, dass die rechten Parteien bei den Wahlen Ende September gewinnen könnten. Gioria Meloni könnte dann Ministerpräsidentin werden. Die Kandidatin Giorgia Meloni sagt zwar, sie sei keine Faschistin, doch schon das Logo ihrer Partei zeigt das Symbol der Postfaschisten: Die ewige Flamme auf Mussolinis Grab.
Sahar macht das große Sorgen. Wird sie dann vielleicht Italien verlassen müssen? Ihr Bruder Hamed versucht dann, ihr auch bei solchen Fragen, die Angst zu nehmen. "Wie sieht denn die Politik von Meloni aus in Bezug auf Migranten?", fragt sie und Hamed antwortet: "Naja, sie ist die Parteivorsitzende einer richtig rechten Partei in Italien. Natürlich ist sie deshalb gegen Flüchtlinge und Migranten. Also nicht gegen die Ukrainer, mit denen hat sie kein Problem."
"Aber mit uns könnte sie Probleme haben, oder?", fragt sie weiter und ihr Bruder antwortet: "Nicht direkt mit uns, aber es betrifft ihre internationale Politik – ganz grundsätzlich hat sie ein Problem mit Flüchtlingen und Migranten. Ja." Doch dann schenkt er Sahar Zuversicht: "Aber weißt du was Sahar? Du lebst jetzt an einem Ort, an dem selbst du den Platz von einer wie Meloni, sollte sie Ministerpräsidentin werden, einnehmen könntest, wenn du wolltest. Das ist in Afghanistan unter den Taliban nicht mehr möglich."
Und dann machen sie etwas, was auch nicht mehr geht in Afghanistan: Sie spüren die Freiheit.
Autorin: Natalie Amiri/ARD Studio Rom
[Das Video zum Beitrag musste aus rechtichen Gründen leider offline gehen]
Stand: 22.11.2022 15:12 Uhr
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