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Italien: Die Babygangs von Neapel

Italien: Die Babygangs von Neapel | Bild: SWR

“Früher war das ein Spiel, jetzt ist es unsere Arbeit“, sagt ein minderjähriger Junge unserer Reporterin und meint seinen kriminellen Alltag mitten in  Neapel. Viele Heranwachsende schließen sich Jugendgangs an, verdienen sich ihr Geld mit Drogengeschäften, kämpfen um Reviere und wachsen langsam in mafiöse Strukturen hinein. So als sei das völlig normal.

“Es ist für die Familie keine Schande, wenn ein Sohn im Gefängnis ist“, sagt eine Mutter. Er sei  ja nicht der einzige, in jeder Familie gäbe es Jugendliche, die im Knast sitzen. Im Gefängnis radikalisieren sich die meisten noch einmal, sie sind regelrechte “Schulen der Kriminalität“.

Eine Reportage von Ellen Trapp (ARD-Studio Rom)

Es ist weit nach Mitternacht – für die Jugendlichen von Neapel beginnt  das wahre Leben jetzt. Wir sind auf dem Weg zu einer Piazza in der Innenstadt. Treffpunkt der Babygangs. Hier verdienen die Kids ihr Geld mit Drogenhandel, hier liefern sie sich Schießereien und Messerstechereien als Zeitvertreib. Hier hängen sie ab – und würden auch mit uns gerne ins Geschäft kommen.

Der Staat bietet keine Perspektive

Auch diese drei Jungs lungern dort immer rum, sie wollen unerkannt bleiben. Sandkastenfreunde. Diebstahl, Drogen, Frauen – so beschreiben sie ihr Leben. “Früher war das ein Spiel, jetzt ist es unsere Arbeit“, sagt einer von den Dreien. “Wenn Du mit der Mentalität aufwächst, verlierst Du auch den Bezug zur normalen Arbeit, was das bedeutet und auch zum Wert des Geldes – wenn Du mal 3 oder 4 Tausend Euro die Woche verdienst.“ Ein anderer beklagt: “Der Staat hat Schuld, er bietet uns keine Perspektive. Es gibt Arbeit, für 80 oder 100 Euro die Woche.“ Und fragt sich: “Mal ganz ehrlich, was sollen wir damit anfangen? “ Der Dritte zieht den Schluss: “Was die in einem Monat verdienen, verdienen wir in einer Woche. Von 80 Euro kaufen wir uns nur Zigaretten.“

Stadtansicht aus der Vogelperspektive
Neapel – Stadt der Extreme: hohe Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität | Bild: SWR

Neapel – Stadt der Extreme, die neapolitanische Mafia, die Camorra regiert hier, und in abgehängten Vierteln eben Babygangs. Jugendarbeitslosigkeit: hoch. Kriminalität: ebenso. Ihr Traum: Reich sein.

Die Jugendlichen werden zu schnell erwachsen in Neapel

Wir treffen Pietro Ioia, Ex-Drogenboss der Camorra, saß 22 Jahre dafür im Knast, heute fühlt er sich verantwortlich für diese nachwachsende Generation. Denn er weiß nur zu gut, wie schnell die Kids abrutschen. “Die Jugendlichen werden zu schnell erwachsen in Neapel“, sagt er. “Plus diese Gewalt verherrlichenden Videospiele. Die sind wie eine Sucht, eine Mode, sie wollen zeigen “ich bin besser als Du!“ “Ich kann es besser als Du!“ Ihnen gefallen Markenschuhe, Markenklamotten. Das ist wie eine Sucht. Aber davon abgesehen mangelt es an Kontrollen von Seiten der Behörden. Die müssten sich mehr um diese Jugendlichen kümmern, das passiert in unseren Vierteln einfach nicht.“

Arturo wurde Opfer einer Babygang. Wohl behütet, aus anständigem Hause. Er ist 17, als sie ihn im vergangenen Dezember während des Weihnachtsshoppings versuchen in den Hals zu stechen. Nachmittags, auf offener Straße, niemand hilft, keiner will etwas gesehen haben. Beim Marathon wollen alle mit ihm um sein Leben laufen. “Es könnte mir besser gehen, aber ich will hier alles geben,“ erklärt er. Arturos Stimmbänder wurden schwer verletzt. Mit dem Lauf will er sich zeigen, kein Opfer sein, sondern vielmehr den Babygangs die Stirn bieten. Es gebe auch ein anderes Leben in Neapel. So sieht es auch der Bürgermeister von Neapel, Luigi de Magistris. “Es ist ein reales Phänomen, das es immer gegeben hat. Das man nicht unterschätzen sollte. Aber man sollte es auch nicht größer machen als es ist,“ sagt er. “Man muss ihm ernsthaft begegnen, mit konkreten, effizienten Maßnahmen, durch Teamarbeit. Aber es ist kein Ausnahmezustand.“

Babygangs schaffen ihre eigenen Gesetze

Das sieht die Anti-Mafia Behörde anders, bewertet den Straßenkrieg als äußerst beunruhigend, gerade wegen der Brutalität und weil Babygangs ihre eigenen Gesetze schaffen. Angst – Fehlanzeige. Wir besuchen Grazia und ihren Mann. Sie haben nichts, manchmal arbeitet sie als Putzfrau, er verkauft Taschentücher am Straßenrand, sagen sie. Ciro selbst saß in seiner Jugend im Knast und zwei der vier Söhne sind seit Jahren hinter Gittern. Der älteste Sohn sitzt lebenslänglich, Michele war 12 als er einen Polizisten angeschossen hat, noch ein Kind…  Sein Vater, Ciro di Marzo, beschreibt ihn so: “Michele ist kein böser Junge, er ist nur dann gefährlich, wenn er gefährlich sein muss. Selbst die Clans der Camorra meiden ihn, weil sie wissen, dass er skrupellos ist.“ Jetzt sitzt er seit Jahren schon im Knast, einer von vielen jungen Kriminellen. Schuld ist ihrer Meinung nach der Staat, der sich nicht kümmert. Deshalb: Einmal Gangster, immer Gangster. Grazia Annunziata, die Mutter, erklärt die Hintergründe aus ihrer Sicht: “Stell` Dir mal 'nen Knacki vor, der eine Familie hat. Das ist doch ganz normal, dass der stiehlt, weil er Frau und Kinder ernähren muss. Wenn er aus dem Knast kommt hat er keinen Job, und sonst nichts, dann ist es doch ganz normal, dass er – wenn er dich mit deiner tollen Tasche sieht – sie dir klaut. Die leben so!“ Auch ihre Kinder leben so. Einmal die Woche besuchen sie sie im Gefängnis. Nach allem, was sie wissen geht es ihnen dort gut – wie im Hotel, sagen sie. “Es ist keine Schande, auch weil er nicht der Einzige ist“, sagt Grazia Annunziata. “Eine Schande ist, wenn man Kinder missbraucht.“

Gefängnisse sind “Schulen der Kriminalität“

Straßenszene, Jugendliche stehen beieinander
Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, die Kriminalität ebenso | Bild: SWR

Kriminell zu sein, für die Armen in Neapel: ganz normal. In der Stadt erinnern Gedenkstätten an viele Jugendliche, die Opfer der Babygangs wurden. Der Weg aus der Kriminalität, gelingt nur den Wenigsten. “Die Gefängnisse sind “Schulen der Kriminalität“ – wenn ein Jugendlicher ins Gefängnis kommt, dann ist er danach noch stärker kriminalisiert, “ ist Pietro Ioia, der Sozialarbeiter, überzeugt. “Aber die Camorra ist was anderes. Babygangs wachsen in Vierteln auf, in denen es keine “alteingesessenen Bosse“ gibt. Aber in den Vierteln, wo es die richtigen Bosse gibt, da gibt es diese Kids nicht. Aber dort, wo es diese “Bosse“ nicht gibt, wie z.B. in der Altstadt, dort sprießen sie wie Pilze aus dem Boden.“

Die drei Gangster - Waffen, Messer - sie kennen keine Gnade. Was sie brauchen, nehmen sie sich. Wem auch immer das gehört. Unrechtsbewusstsein? Fehlanzeige. “Wenn ich mit jemandem streite, der überlegt nicht 2x, der sticht mich ab. Also muss ich ihn vorher abstechen. Die Pistolen sind nur für besondere Fälle, wenn wir jemanden töten wollen.“ Aus Kindern werden Leute – die Babygangs von heute, die Mafiosi von morgen. Nachwuchsprobleme wird die Camorra keine haben.

Stand: 27.08.2019 06:43 Uhr

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