Susanne Glass über das Waisenhaus von Bethlehem

Ein Frühchen im Waisenhaus von Bethlehem
Ein Frühchen im Waisenhaus von Bethlehem

Katholische Ordensschwestern betreiben in Bethlehem ein Waisenhaus unter anderem auch schon für Neugeborene. Warum ist dieses Waisenhaus im Westjordanland so nötig? Warum landen die Kinder dort?

In einer islamisch geprägten Gesellschaft zählen Familie und Ehre. Kinder, die außerhalb einer Familie geboren werden, gelten als "namenlos" und als Schande. Wenn die Mütter mit einem anderen Mann verheiratet sind, werden sie häufig zu Gefängnisstrafen verurteilt und müssen das Kind abgeben. Außerdem droht den Frauen die Ermordung aus "Gründen der Ehre". In manchen Fällen sorgen die Schwestern deshalb auch dafür, dass Frauen untertauchen können, noch bevor die Schwangerschaft sichtbar wird. Sie entbinden im Krankenhaus und lassen das Kind dort zurück.

Gefängnisstrafen für außereheliche Beziehungen und uneheliche Kinder – in der von der Hamas regierten Region würde das vielleicht nicht so sehr überraschen, aber warum ist das auch im Westjordanland so?

Tatsächlich ist die Fatah-Regierung im Westjordanland viel gemäßigter als die Hamas in Gaza. Alkohol zum Beispiel ist in Ramallah erlaubt. Es gibt im Westjordanland auch eine zivile Gesetzgebung. Aber sobald die Familie betroffen ist, setzen sich die Religiösen und das Scharia-Recht durch. Allerdings ist auch dies von Region zu Region unterschiedlich. Der gleiche Fall von Ehebruch kann von einem Gericht in Nablus ganz anders beurteilt werden als in Jenin. Wenn die Frauen Glück haben, geraten sie an einen moderaten Richter. Also auch hier gibt es keine Rechtssicherheit. Manchmal kommen nach einem Ehebruch auch die Männer ins Gefängnis. Allerdings viel, viel seltener und kürzer. Ich kenne einen aktuellen Fall: Die Frau kam drei Jahre ins Gefängnis, der Mann zwei. Sie wurde als "Schuldige" bestraft. Bei dem Mann erklärte der Richter, dass er ihn zu seinem eigenen Schutz inhaftieren lasse. Da die Brüder der Frau Rache für die Schande angekündigt hatten.

Die Leiterin des Waisenhauses, Schwester Denise, spricht von einer Zunahme der Kinderzahl. Was denken Sie, warum das so ist?

Die jungen Frauen haben über Social Media nun einen Kontakt zur freien, modernen Welt. Außerdem haben sie viel stärker als früher die Möglichkeit Kontakte – eben auch zu Männern – zu knüpfen. Sie rebellieren immer häufiger gegen eine Gesellschaft, in der sie unterdrückt werden. Aber wenn es dann zu einer Schwangerschaft kommt, stehen sie eben weiterhin vollkommen alleine da. Und sehen in ihrer Verzweiflung keinen anderen Weg, als das Kind abzugeben. Ein großes Tabu-Thema ist übrigens auch Inzest. Einige der Kinder im Waisenhaus sind die Folgen inzestiöser Beziehungen.  

Warum dürfen die Frauen die Kinder, nachdem sie ihre Gefängnisstrafe abgesessen haben, nicht behalten, falls sie das wollen?

Das Kind trägt immer den Namen des Mannes. In diesem Fall den Namen des Ehemannes der Frau, der nicht der Vater ist. Eine Frau oder eine andere Familie kann ihren Namen nicht auf das Kind übertragen. Was unter anderem dazu führt, dass es nach dem Scharia-Recht keine Adoption gibt. Also selbst wenn sich die Frau nach ihrem Gefängnisaufenthalt scheiden lassen und den Vater des Kindes heiraten würde – was nun wirklich äußerst theoretische Überlegungen in dieser Gesellschaft sind – hätte das Paar keinen Anspruch auf das Kind. Dies gehört rechtlich sein Leben lang dem anderen Mann.

Eine Möglichkeit, den Kindern eine neue Heimat zu geben, wäre ja die Adoption. Warum ist das für die Kinder im Waisenhaus in Bethlehem keine Option?

Dies ist nicht nur für die Kinder im Waisenhaus von Behlehem keine Option. Die Scharia kennt generell diese Möglichkeit nicht, weil in dieser Gesellschaft Namen und Familie mehr zählen als der einzelne Mensch. Es gibt allerdings die Möglichkeit von Pflegefamilien. Etwa fünf Kinder des Heimes finden pro Jahr eine solche Pflegefamilie. Aber diese können die Aufnahme jederzeit beenden, wenn sich das Kind als problematisch erweist. Außerdem haben die Behörden das Recht, das Kind jederzeit in ein Heim zurückzuschicken. Ist der Name des Kindes unbekannt, darf es außerdem nur von einer muslimischen Pflegefamilie aufgenommen werden.

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