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Großbritannien: Flüchtlingsnot – helfen und abschotten

Großbritannien: Flüchtlingsnot - helfen und abschotten | Bild: ARD

Ein Pub voller "Jolly good fellows”. Gute Kerle, männlich wie weiblich. Hollie Choat, die Wirtstochter, bekommt ein besonderes Abschiedsständchen. Sie und einige Unterstützer wollen helfen und nicht nur zuschauen. "Wir fahren jetzt nach Calais und bringen den Flüchtlingen dort etwas zu essen. Und wir bleiben vier Tage lang."

Unter dem Fest wird feste gepackt. Haferbrei, Müsliriegel und Linsen – für ein warmes Essen. "Wir halten unser Leben hier für selbstverständlich. Aber direkt vor der Tür leiden die Menschen." sagt Sam Thampapillai. Dagegen will er etwas tun – wie rund ein Dutzend Helfer, die in einer Woche umgerechnet über 15.000 Euro gesammelt haben. Angestachelt von Hollie, weil ihnen ihre Regierung zu wenig tut.

"Die Regierung könnte viel mehr tun. Wenn das schon ein paar Leute aus einem Pub in London schaffen, dann müssten die das doch erst Recht hinbekommen. Sie beschämen unser Land, Herr Premierminister", meinen Tochter und Vater. Wenn die Regierung die Flüchtlinge nicht hierher lässt – dann fahren sie halt zu ihnen, nach Calais, Frankreich.

Kein Weg über den Kanal

Endstation Sehnsucht, heimatlos, tausende wissen nicht, wie es weitergeht. Großbritannien schottet sich ab, schickt Geld für Zäune. Aber keine Hilfe für die, die ihr Leben riskieren auf der Flucht. Mit Kind und Familie.

"Wir haben den natürlichen Vorteil, dass wir vom Meer umgeben sind. Und wir haben die Grenzkontrollen schon auf der französischen Seite verdoppelt." sagte Großbritanniens Premierminister David Cameron noch am 30. Juli 2015. Das gelobte Land ist eine Insel. Illegale nennt die Regierung die, die unter Lastern hängen und ihr Leben riskieren. Sie sollen draußen bleiben.

Traumatisiert vom Krieg, allein in der Fremde

Flüchtlinge klettern über einen Zaun
Flüchtlinge in Calais: Ihr Ziel heißt Großbritannien. | Bild: ARD

Sie hingen unter Lastern. Eine Flüchtlingsunterkunft in Manchester. Den Antrag auf Asyl hat Yasser gestellt – gehört hat er noch nichts von den Behörden. Über einen Monat lang war er auf der Flucht – vor Assads Truppen und den IS-Kämpfern. "Wir sind überfallen worden, die Schleuser, wilde Tiere, vor denen ich Angst hatte. Es war alles so gefährlich und so anstrengend. Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte mich vielleicht nicht auf den Weg gemacht."

Seine Familie hat er zurückgelassen in Syrien, seine Tochter Sarah, seine Frau. Er war Englischlehrer, jetzt lehrt er anderen Flüchtlingen das Einmal-Eins der neuen Kultur. Umgerechnet rund sieben Euro hat er am Tag zum Leben. Viel mehr als das, was er anhat, besitzt Yasser nicht. Traumatisiert vom Krieg, allein in der Fremde, in einem Land, dass ihm nicht das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Diese Schuhe sollen umgerechnet rund 14 Euro kosten. Ganz schön teuer, meint Yasser. 14 Euro – das bedeutet: Zwei Tage nichts zu essen. Er lässt die Schuhe stehen.

Fremdenfeindlichkeit fällt auf fruchtbaren Boden

Alltag in Großbritannien. Sichtbar viele Kulturen, Religionen, nicht nur in London. Neue Heimat für viele, weltoffen und stolz darauf. Schmelztiegel, dieses Land kann Menschen integrieren. Nur wie viele?

Am Meer weitet sich der Blick, oder er schrumpft auf Inselmaß. Clacton On Sea, zu den Flüchtlingen in Calais ist es nicht weit. Sie nennen ihre Stadt Poverty on Sea. Armut am Meer. Hohe Arbeitslosigkeit, wenig Hoffnung. Die rechtspopulistische Unabhängigkeitspartei UKIP hat hier ihren einzigen Parlamentssitz ergattert. Ihre Fremdenfeindlichkeit fällt auf fruchtbaren Boden – auch bei Frührentner Laurie Russell: "Wir haben hier genug Armut und die Regierung gibt uns keinen Penny. Warum kriegen die Flüchtlinge Hilfe und niemand kümmert sich um uns? Daher kommen die Vorurteile."

Flüchtlingskrise spielt UKIP in die Hände

Premier Cameron in einem Flüchtlingslager
David Cameron besucht Syrer in einem Flüchtlingslager | Bild: ARD

Vorurteile, die sie auch hier schüren. Eine UKIP-Parteiversammlung mit einem klaren "Nein" zur EU. Ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union hatte der Premierminister versprochen.

Simon Hix von der London School of Economics dazu: "Das kommt alles zur Unzeit. Cameron will ein Referendum über den Verbleib in der EU gewinnen. Aber je länger die Flüchtlingskrise dauert, je mehr das ein Thema wird, desto mehr wird die Bevölkerung eine sichere Grenze fordern – und vielleicht den Austritt aus der EU."

Eine Regierung in der Zwickmühle

Cameron kann es niemandem Recht machen. Das weiß der Premier, als er Anfang der Woche ein Flüchtlingslager im Libanon besuchte: "Wir wollen die Leute davon abhalten, sich auf die gefährliche Reise nach Europa zu machen. Stattdessen holen wir sie direkt aus den Lagern, geben ihnen Wohnungen, Schulplätze und heißen sie herzlich willkommen in Großbritannien."

Wie viele Flüchtlinge er ins Land holt, und wen das will Cameron selbst entscheiden. Die Rede ist von etwa 4000 im Jahr. Denen, die in London im Pub Geld sammeln um zu helfen, ist das viel zu wenig. Denen, die die gefährliche Flucht durch Europa wagen wie Yasser es getan hat, ist Camerons Politik keine Hilfe. Und den Briten, die um die eigene Existenz fürchten wie in Clacton, für sie tut Cameron schon jetzt zu viel für die Flüchtlinge. Ein Premier im Dilemma – und ein Land, gespalten in der Flüchtlingspolitik.

Autor: Hanni Hüsch/Björn Staschen, ARD London

Stand: 09.07.2019 10:20 Uhr

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