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Großbritannien: Der Post Office-Skandal

Großbritannien: Der Post Office-Skandal | Bild: NDR

Wenn sie nach London kommt, wird sie belagert. Jo Hamilton ist eines der 1.000 Opfer im größten Justizskandal Großbritanniens. Was sie so interessant macht. Sie hat den Verantwortlichen die Stirn geboten.
In einem kleinen Ort in Hampshire übernimmt sie Anfang 2003 die Filiale des Post Office – der staatlichen Post. Von Beginn an läuft etwas schief. Ihr fehlt regelmäßig Geld in der Kasse. "Da hinten war mein Postschalter. Dort habe ich Nacht um Nacht gesessen und nicht verstanden, was passiert", erinnert sich Hamilton.

Kassensturz beschert regelmäßiges Minus

Wie in allen Filialen läuft auch bei Jo die Abrechnung über das Computersystem der Post. Hier gibt sie ein, was sie verkauft und einnimmt. Der regelmäßige Kassensturz aber beschert ihr fast immer ein Minus: "Ich habe die Helpline angerufen. Es fehlten 2.000 Pfund in der Kasse. Sie haben mir gesagt, dass ich ein paar Einstellungen im Computer korrigieren müsste. Das habe ich gemacht und plötzlich fehlten 4.000 Pfund in der Kasse. Sie sagten: 'Den Verlust musst Du bezahlen'. Und weil ich das nicht konnte, haben sie mein Gehalt einbehalten."

So geht es über Monate. Selten stimmt die Kasse. Bis die Post ihr auch noch vorwirft zu stehlen. "Sie haben zu mir gesagt, ich bin die einzige mit Problemen. Ich habe mein eigenes Geld in die Kasse getan, bis ich nicht mehr konnte. Ich habe sogar mein Haus beliehen. Und dann wurde mir geraten, mir einen Anwalt zu nehmen."

Ermittler sollen Geld eintreiben

Filialen des riesigen Staatskonzerns finden sich in Großbritannien in jedem Ort. In Tausenden kämpfen Betreiber mit dem gleichen Problem. Das Post Office verlangt von jedem, für fehlendes Geld geradezustehen. Die Post setzt sogar eigene Ermittler ein, um das Geld einzutreiben, zerrt 900 Filial-Betreiber wegen Diebstahls vor Gericht. Die Post-eigenen Ermittler stehen irgendwann auch bei Jo Hamilton im Haus. Umgerechnet über 40.000 Euro haben sich angehäuft, sie werfen ihr Veruntreuung vor. Ein Gericht verurteilt sie zu einer Bewährungsstrafe, weil sie ihre Unschuld nicht beweisen kann. "Der Ermittler der Post war jeden Tag im Gericht. Nach dem Urteil haben ein paar Fotografen Bilder von mir gemacht. Er hat zu ihnen gesagt: Nehmt sie nicht auf. Sie ist eine Kriminelle“, erinnert sich Jo.

Computerfehler: Betroffene zu Unrecht beschuldigt

Ein Frau läuft auf einem Weg entlang.
Jo Hamilton ist eines der 1.000 Opfer im größten Justizskandal Großbritanniens. | Bild: NDR

Diese für sie schreiende Ungerechtigkeit will Jo nicht auf sich sitzen lassen. Irgendwann hört sie auch von den anderen Betroffenen. Sie nimmt Kontakt auf. 555 kommen zusammen, um gemeinsam die Post zu verklagen. Ein Durchbruch. Das Gericht glaubt an einen Computerfehler. Sagt: Die Betroffenen seien zu Unrecht beschuldigt und verurteilt wurden.

Das britische Parlament setzt daraufhin einen Untersuchungsausschuss ein. Und dort packt ein ehemaliger Mitarbeiter der Computerfirma aus: "Es galt als unstrittig, dass das System Mist war. Es musste umgeschrieben werden. Das passierte aber nicht, weil dafür kein Geld zur Verfügung stand", sagt Richard Roll, ehemaliger Fujitsu-Techniker. Die Praxis sei gewesen, das den Filialbetreibern nicht zu sagen.

Das Kassensystem in den Postfilialen stammt vom japanischen Hersteller Fujitsu. Über die erheblichen Probleme weiß auch die Chefetage des Post Office Bescheid. Gemeinsam halten sie ihr Wissen aber zurück. Auch in den Prozessen, die die Post gegen die eigenen Mitarbeiter führt. Im Untersuchungsausschuss, den Jo wann immer sie kann verfolgt, wird auch einer der Post-eigenen Ermittler vorgeladen:

Anwalt Ed Henry: In der Zentrale gingen Tausende Anrufe ein, dass das System nicht funktioniert.

Stephen Bradshaw, Ermittler Post Office: Ja.

Henry: Sie haben den verzweifelten Leuten gesagt sie seien die einzigen.

Bradshaw: Nein, haben ich nicht.

Henry:  Sie haben die Leute verfolgt und wollten, dass sie schuldig sind.

Bradshaw: Das ist ihre Lesart.

Verfilmung des Skandals bringt Aufarbeitung ins Rollen

Zwei Männer sitzen nebeneinander bei einer Anhörung.
Bisher hat sich nur Fujitsu bei den Betroffenen entschuldigt. | Bild: NDR

Ihr Schicksal hat in Großbritannien lange kaum jemanden interessiert. Bis vor wenigen Wochen ein Fernsehsender den Skandal als Miniserie verfilmt. Hier ist auch Jo zu sehen. Erst nach großer Empörung bringt Premierminister Sunak ein Gesetz auf den Weg, das alle zu Unrecht Verurteilten schnellstmöglich entschädigen soll. Und auch erst danach – eine Entschuldigung. Aber nur von der Computerfirma: "Wir waren von Anfang an dabei und hatten Softwareprobleme. Und wir haben dazu beigetragen, dass die Betroffenen strafrechtlich verfolgt wurden", erklärt Paul Patterson Großbritannien-Chef von Fujitsu.

Entschädigung – das sei schon mal wichtig. Sie werde aber nicht locker lassen, bis auch die Verantwortlichen – vor allem der Post — zur Rechenschaft gezogen werden. "Wir wollen Wiedergutmachung, Gerechtigkeit in der Gruppe. Entschuldigungen bedeuten da gar nichts", sagt Jo Hamilton. Denn für das Post Office hatte der Skandal bisher noch gar keine Konsequenzen.

 Autor: Sven Lohmann, ARD-Studio London

Stand: 11.02.2024 20:14 Uhr

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