So., 08.09.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Indonesien: Angekettet und hinter Gittern
Psychisch Kranke auf Bali
Es hat lange gedauert, bis sie dieses Grundstück betreten durfte. Niemand sollte das Grauen sehen, den Mann, der hinter Betonmauern versteckt wird.
Mustika ist 42 Jahre alt. Ein Mensch, gehalten wie ein bissiger Hund. Seit 20 Jahren lebt er in Ketten.
Seine Schwester will keine Hilfe. Sie bettelt die Psychologin Suryani an: "Bitte, bitte lass ihn in Ruhe.“ Ihr Bruder sei verrückt, aggressiv, außer Kontrolle.
Luh Ketut Suryani, Psychiaterin
Suryanis Diagnose: Schizophrenie. Ein Neuroleptikum soll die Halluzinationen bekämpfen. Fünf Nachbarn halten Mustika fest. Sie haben Angst vor dem Monster, das sich in ihm verstecken könnte.
Luh Ketut Suryani, Psychiaterin
Suryani will den Verstoßenen aus den Ketten befreien. Stundenlang redet sie auf die Familie ein, versucht Vertrauen aufzubauen. Doch die Angehörigen haben sich mit der Kette arrangiert. Die Krankheit, erzählen sie, das sei doch eine Strafe der Götter.
Wayan Mujani, Neffe
Die Familie weigert sich, die Kette zu lösen. Suryani muss gehen.
Luh Ketut Suryani, Psychiaterin
Glück, Entspannung und Sonne - das suchen auch sie. Hier an den Traumstränden Balis ahnt niemand, was sich nur wenige Kilometer entfernt anspielt. Die Touristen aus aller Welt wollen surfen, tauchen, ein bisschen balinesische Kultur erleben. Für sie ist die Insel das Urlaubsparadies.
Suryani sieht die dunkle Seite der Idylle: Die Insel der Angeketteten und Weggesperrten. 350 soll es allein auf Bali geben. 50 Menschen konnte die 69-jährige Psychiaterin bisher befreien.
Die Gefängnisse der Vergessenen. Orte, an denen niemand einen Menschen vermuten würde: In einer Abstellkammer findet Suryani ihren nächsten Patienten. In dieser Zelle wird Wayan seit 22 Jahren gefangen gehalten.
Suryani ist heute zum dritten Mal da. Sie hat ihm Medikamente gegeben und die Familie überzeugt. Heute darf Wayan sein Gefängnis verlassen.
Sein Sohn öffnet das Schloss. Er kennt seinen Vater nur als den Mann hinter Gittern. Im Innenhof wartet die Familie. Sie haben damals gemeinsam entschieden, ihn einzusperren. Wayan hatte seine Frau angegriffen. Warum er sich damals so verändert hat - für die Familie ein Rätsel.
Die Mutter hält Abstand. Ein Stück Normalität herzustellen - schwierig nach 22 Jahren.
"Ja, jetzt bin ich draußen." sagt Wayan.
Luh Ketut Suryani, Psychiaterin
22 Jahre ohne Sonnenlicht. 22 Jahre ohne Familienleben. Wayan ist inzwischen Großvater geworden. Die Eindrücke sind überwältigend - für beide Seiten.
Nengah Nata Drawan, Sohn
Das Gefängnis oder die Kette: Ein Akt der Verzweiflung, ein Akt der Hilflosigkeit, ein Versuch, die Familie zu schützen und den Kranken vor der Welt da draußen.
Luh Ketut Suryani, Psychiaterin
Suryanis Kampf - auch ein Kampf gegen uralte Traditionen. Die meisten Balinesen sind Hindus. Der Glaube an böse Geister ist fest verankert. Opfergaben und Rituale sollen die Dämonen besänftigen. Doch bei psychisch Kranken stößt die Reinigungszeremonie an ihre Grenzen.
Psychisch Kranke, die nicht geheilt werden können, gelten als besessen. Die Krankheit als Strafe der Götter - aller Opfergaben zum Trotz.
Suryani besucht ihre letzte Patientin an diesem Tag. Vor drei Wochen fand sie Ida Ayu in dieser Hütte. Ihr Bruder hat sie vor fünf Jahren angekettet. Seine Schwester sprach mit sich selbst, schmiss mit Steinen um sich, lief nackt durchs Dorf.
Jetzt ist ihr Zustand stabil und ihr Bruder bereit, die Fußfessel zu entfernen.
Luh Ketut Suryani, Psychiaterin
Ida Bagus Made Dana, Bruder
Nach ihrem ersten Besuch war sich Suryani noch sicher, dass die Familie die Frau sterben lassen würde. Jetzt beginnt für Ida Ayu ein neues Leben - ohne Ketten. Und hoffentlich ein Leben in Würde!
Autor: Norbert Lübbers / ARD Singapur
Stand: 15.04.2014 10:59 Uhr
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