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Indonesien: Angekettet und hinter Gittern

Psychisch Kranke auf Bali

Indonesien: Angekettet und hinter Gittern - Psychisch Kranke auf Bali | Bild: Das Erste

Es hat lange gedauert, bis sie dieses Grundstück betreten durfte. Niemand sollte das Grauen sehen, den Mann, der hinter Betonmauern versteckt wird.

Mustika ist 42 Jahre alt. Ein Mensch, gehalten wie ein bissiger Hund. Seit 20 Jahren lebt er in Ketten.

Mustikas Schwester
Mustikas Schwester | Bild: BR

Seine Schwester will keine Hilfe. Sie bettelt die Psychologin Suryani an: "Bitte, bitte lass ihn in Ruhe.“ Ihr Bruder sei verrückt, aggressiv, außer Kontrolle.

»Ich werde ihm jetzt eine Injektion verabreichen, um seinen Zustand zu stabilisieren.«

Luh Ketut Suryani, Psychiaterin

Suryanis Diagnose: Schizophrenie. Ein Neuroleptikum soll die Halluzinationen bekämpfen. Fünf Nachbarn halten Mustika fest. Sie haben Angst vor dem Monster, das sich in ihm verstecken könnte.

»Ich versuche ihnen zu erklären, dass wir so nicht mit Menschen umgehen dürfen. Sie ketten ihn ja nicht an, weil sie daran Spaß haben. Sie tun es, weil sie Angst haben, Angst, dass er gewalttätig wird, Angst, dass er jemandem etwas antut.«

Luh Ketut Suryani, Psychiaterin

Luh Ketut Suryani
Luh Ketut Suryani | Bild: BR

Suryani will den Verstoßenen aus den Ketten befreien. Stundenlang redet sie auf die Familie ein, versucht Vertrauen aufzubauen. Doch die Angehörigen haben sich mit der Kette arrangiert. Die Krankheit, erzählen sie, das sei doch eine Strafe der Götter.

»Seine Krankheit ist anders. Das ist schwarze Magie. Jemand hat ihn verhext. Und einer kann ihn gesund machen. Unsere Heiler konnten ihm doch auch nicht helfen!«

Wayan Mujani, Neffe

Die Familie weigert sich, die Kette zu lösen. Suryani muss gehen.

»Natürlich bin ich enttäuscht. Aber das braucht Zeit. Ich verstehe, dass sie Angst haben. Aber ich werde wiederkommen. Auch dieser Mann hat ein Recht auf Freiheit und Glück!«

Luh Ketut Suryani, Psychiaterin

Glück, Entspannung und Sonne - das suchen auch sie. Hier an den Traumstränden Balis ahnt niemand, was sich nur wenige Kilometer entfernt anspielt. Die Touristen aus aller Welt wollen surfen, tauchen, ein bisschen balinesische Kultur erleben. Für sie ist die Insel das Urlaubsparadies.

Suryani sieht die dunkle Seite der Idylle: Die Insel der Angeketteten und Weggesperrten. 350 soll es allein auf Bali geben. 50 Menschen konnte die 69-jährige Psychiaterin bisher befreien.

Zwei Männer und eine Frau in einem Raum
Zwei Männer und eine Frau in einem Raum | Bild: BR

Die Gefängnisse der Vergessenen. Orte, an denen niemand einen Menschen vermuten würde: In einer Abstellkammer findet Suryani ihren nächsten Patienten. In dieser Zelle wird Wayan seit 22 Jahren gefangen gehalten.

Suryani ist heute zum dritten Mal da. Sie hat ihm Medikamente gegeben und die Familie überzeugt. Heute darf Wayan sein Gefängnis verlassen.

Sein Sohn öffnet das Schloss. Er kennt seinen Vater nur als den Mann hinter Gittern. Im Innenhof wartet die Familie. Sie haben damals gemeinsam entschieden, ihn einzusperren. Wayan hatte seine Frau angegriffen. Warum er sich damals so verändert hat - für die Familie ein Rätsel.

Wayan
Wayan | Bild: BR

Die Mutter hält Abstand. Ein Stück Normalität herzustellen - schwierig nach 22 Jahren.

"Ja, jetzt bin ich draußen." sagt Wayan.

»Er ist glücklich, hier bei seinem Sohn und seiner Familie zu sein. Aber er kann seine Gefühle nicht ausdrücken!«

Luh Ketut Suryani, Psychiaterin

22 Jahre ohne Sonnenlicht. 22 Jahre ohne Familienleben. Wayan ist inzwischen Großvater geworden. Die Eindrücke sind überwältigend - für beide Seiten.

»Meinen Vater nur in der Zelle zu sehen, das hat weh getan. Jeden Tag habe ich gebetet, dass er wieder normal wird!«

Nengah Nata Drawan, Sohn

Das Gefängnis oder die Kette: Ein Akt der Verzweiflung, ein Akt der Hilflosigkeit, ein Versuch, die Familie zu schützen und den Kranken vor der Welt da draußen.

»Das Krankenhaus hat ihn nach ein paar Wochen zurückgeschickt. Dort konnte man ihm nicht helfen. Dann hat die Familie ihn von einem Heiler zum nächsten gebracht. Bis kein Geld mehr da war. Die Zelle war der letzte Ausweg!«

Luh Ketut Suryani, Psychiaterin

Suryanis Kampf - auch ein Kampf gegen uralte Traditionen. Die meisten Balinesen sind Hindus. Der Glaube an böse Geister ist fest verankert. Opfergaben und Rituale sollen die Dämonen besänftigen. Doch bei psychisch Kranken stößt die Reinigungszeremonie an ihre Grenzen.

Psychisch Kranke, die nicht geheilt werden können, gelten als besessen. Die Krankheit als Strafe der Götter - aller Opfergaben zum Trotz.

Ida Ayu
Ida Ayu | Bild: BR

Suryani besucht ihre letzte Patientin an diesem Tag. Vor drei Wochen fand sie Ida Ayu in dieser Hütte. Ihr Bruder hat sie vor fünf Jahren angekettet. Seine Schwester sprach mit sich selbst, schmiss mit Steinen um sich, lief nackt durchs Dorf.

Jetzt ist ihr Zustand stabil und ihr Bruder bereit, die Fußfessel zu entfernen.

»Ich hoffe, dass sich das jetzt herumspricht, nicht nur hier, sondern auch bei anderen Familien. Dass sie sich uns anvertrauen könne, dass es Hilfe für ihre kranken Angehörigen gibt!«

Luh Ketut Suryani, Psychiaterin

»Ich habe verstanden, dass meine Schwester nicht von heute auf morgen geheilt werden kann. Aber ich sehe Fortschritte und hoffe, dass jetzt alles gut wird!«

Ida Bagus Made Dana, Bruder

Nach ihrem ersten Besuch war sich Suryani noch sicher, dass die Familie die Frau sterben lassen würde. Jetzt beginnt für Ida Ayu ein neues Leben - ohne Ketten. Und hoffentlich ein Leben in Würde!

Autor: Norbert Lübbers / ARD Singapur

Stand: 15.04.2014 10:59 Uhr

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