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Litauen: Ein Auswanderungsland?

Litauen: Ein Auswanderungsland? | Bild: NDR

Sie hofft jeden morgen auf ein kurzes Gespräch mit ihrem Papa: Ramintas Vater arbeitet im Ausland. Er ist Lkw-Fahrer. Sie erwischt ihn schließlich in Spanien. Doch wie so oft, kann er nicht lange reden. Er ist im Stress. "Auf der einen Seite ist es schön seine Stimme zu hören, aber es ist sehr traurig, dass er nicht hier bei mir ist, weil ich so gern direkt mit ihm sprechen würde", sagt Raminta.

Raminta
Ramintas Vater arbeitet im Ausland. | Bild: NDR

Tausende Kilometer trennen Vater und Tochter – und das schon seit acht Jahren. Raminta vermisst ihren Vater sehr. Sie schwelgt oft in Erinnerungen von seinen seltenen Besuchen. In Litauen fand der Vater einfach keinen gutbezahlten Job. "Mein Papa arbeitet echt hart und viel. Er macht das nur für uns, weil unsere Familie das Geld braucht. Das tut er nur wegen mir", erzählt seine Tochter.

Raminta wächst bei ihren Großeltern auf. Nach der Trennung vom Vater, machte sich ihre Mutter aus dem Staub. Die Großeltern Inesa und der Vitautas zögerten keine Sekunde ihr Enkelkind bei sich aufzunehmen. Sie sind auf das Geld ihres Sohnes aus dem Ausland angewiesen. So nehmen sie es schweren Herzens hin, dass sein Stuhl beim Frühstück fast immer leer bleibt: "Mein Sohn ist flexibel und er kriegt das hin. Aber schöner wäre es, wenn er hier bei uns wäre. Es ist schon hart, dass er weg ist. Mit ihm würden wir uns sicherer und stabiler fühlen", sagt Inesa. Umso enger ist die Beziehung zu ihrer Enkelin.

"Hier können die Leute nur im Gemüsegarten arbeiten" 

Halbleeres Klassenzimmer
Ganze Familien verlassen mit ihren Kindern das Land. | Bild: NDR

Die Dörfer Litauens haben einen besonderen Charme. Doch wer kann, zieht weg. Entweder in die Hauptstadt oder gleich ins Ausland. Für das kleine Litauen ist das ein riesiges Problem. Auf dem Land fehlt die Perspektive, besonders für die Jungen: "Hier können die Leute nur im Gemüsegarten arbeiten oder Obst anpflanzen. Mehr gibt es nicht zu tun", sagt Raminta.

Für Ramintas Oma ist die Gartenarbeit mehr als nur Hobby. Ohne ihre Ernte käme die Familie nicht über die Runden. Seit sie ihren Job im Kulturzentrum verlor, weil es schließen musste, ackert die 60-Jährige täglich im Garten. "Mein Sohn hätte auch hier einen Job als Fahrer finden können, aber das hätte nur gereicht, um Essen zum überleben zu kaufen. Er aber versucht, Raminta eine bessere Zukunft zu bieten. Soviel kann man hier nicht verdienen", sagt Inesa.

Die Abwanderung ist auch in der Schule deutlich sichtbar. Fast ein Drittel der Plätze in Ramintas Klasse sind leer. Sie will ihren Vater nicht enttäuschen. Sie ist Klassenbeste. Und für die 16-jährige ist jetzt schon klar: In Litauen kann sie nicht bleiben: "Tatsächlich möchte ich auch nach dem Abitur ins Ausland. Ich möchte woanders studieren, deswegen habe ich in den Sommerferien an der Uni einen Englischkurs besucht."

Ein Land verliert seine Bewohner

Schuldirektorin Elena Sekoniene
Auch die Tochter von Schuldirektorin Elena Sekoniene ist im Ausland, studiert in Berlin. | Bild: NDR

Direktorin Elena Sekoniene ist stolz auf das hohe Niveau ihrer Schule. Doch auch sie hat kein Rezept gegen die Abwanderung. Ihre eigene Tochter studiert in Berlin. Sekoniene glaubt nicht, dass sie jemals zurückkommt: "In den vergangenen Jahren bekommen wir die Abwanderung besonders zu spüren. Ganze Familien mit ihren Kindern sind weggegangen. Und praktisch in jeder Familie arbeitet und lebt jemand im Ausland. Rund eine halbe Millionen Menschen hat Litauen seit dem EU-Beitritt ans Ausland verloren. Dramatisch für ein Land, in dem weit weniger Leute als in Berlin leben.

In ein paar Jahren könnte auch Raminta zu den Auswanderern zählen. Doch noch genießen Opa und Enkelin ihre Momente der Zweisamkeit. Landschaftlich ist der Osten Litauens ein Traum, wirtschaftlich ein Alptraum. Dass Raminta nach dem Abitur weg will: Opa Vitautas trägt es mit Fassung: "Dann hätten wir die Gelegenheit, sie irgendwo zu besuchen. Sonst reisen wir ja höchstens nach Lettland, wo meine Frau herkommt. Wir würden Raminta gerne besuchen, solange wir noch nicht zu alt sind." Am liebsten würde Raminta ihre Großeltern ins Ausland mitnehmen.

Autorin: Nicole Böllhoff, NDR

Stand: 12.07.2019 20:38 Uhr

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