So., 03.04.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Ukraine: Widerstand und Kriegsalltag
Kurz durchatmen und wenigstens die Fingernägel in Ordnung bringen – nachdem in den vergangenen Wochen auch für die Kiewerin Anna die Welt aus den Fugen geraten ist. "Man möchte sich sauber fühlen, gut aussehen – das macht das Leben doch aus, Tod ist ja ohnehin überall. Jetzt da Kiew ein bisschen aufwacht, wird mir klar: Es gibt trotz allem Hoffnung. Wir, die Ukraine, gewinnen auf jeden Fall, aber das kostet Ressourcen, Zeit, und natürlich Leben."
Etwas wie Alltag in Kiew
Seit rund zwei Wochen empfangen sie bei Bunny Nails wieder Kundinnen, in mehreren Salons in der ukrainischen Hauptstadt. Und die Nachfrage ist groß. "Bei der Arbeit denkt man: Wir haben uns an alles gewöhnt. Aber an Bombennächte gewöhnt man sich nicht. Heute haben wir kaum geschlafen", sagt Antonia Krolivets, Direktorin von Bunny Nail Café.
Mancherorts kehrt so etwas wie Alltag zurück in die ukrainische Hauptstadt – Geschäfte und Cafés öffnen wieder. Zumindest auf dem Landweg ist ein Angriff der russischen Armee wohl erst einmal abgewandt, aber die Gefahr durch Luftangriffe bleibt.
Bei aller Sehnsucht nach Alltag: Sie bereiten sich in Kiew weiter auf das Schlimmste vor. In einem Waldstück am Stadtrand treffen wir Marjanna. Die 29-Jährige hat sich als Freiwillige gemeldet. Vorher hatte sie einen Bürojob in der Stadtverwaltung. "Zwei Tage nach der Invasion war mir klar: Ich werde verrückt, wenn ich nichts tue. Erfahrung an der Waffe habe ich kaum. Aber ich sehe das so: Wenn es um dein Leben geht, dann hast du keine Wahl. Ich hoffe einfach, dass im Fall der Fälle meine Hände und mein Gehirn genau das machen, was nötig ist."
130.000 Mitglieder in der ukrainischen Territorialverteidigung
Die Frauen und Männer, die sich mit Marjanna verschanzen, gehören zum Freiwilligen-Arm der ukrainischen Armee, zur sogenannten Territorialverteidigung. Sie wurde 2014 im Jahr der Krim-Annexion und des Krieges im Donbass gegründet. Jetzt hat sie landesweit rund 130.000 Mitglieder. "Dieser Krieg kann nur durch unseren Sieg zu Ende gehen. Es kann keine Kompromisse geben, mit Terroristen darf man sich nicht an einen Tisch setzen. Sie töten unsere Landsleute, sie töten unsere Kinder, Eltern, Söhne, Töchter", sagt Marjanna.
Kleinstadt Trostyanez rund vier Wochen besetzt
Rund 250 Kilometer entfernt, im Nordosten der Ukraine, liegt die Kleinstadt Trostyanez – nicht weit von der russischen Grenze. Einst schrieb der russische Komponist Tschaikowsky hier auf Sommerurlaub Symphonien. Rund vier Wochen haben die Menschen in Trostyanez unter russischer Besatzung gelebt. Vor einigen Tagen haben ukrainische Kämpfer das russische Militär vertrieben. Die Bewohner mussten ohne Wasser, ohne Elektrizität zurechtkommen. Lebensmittel sind immer noch knapp. Vor einer Kirche werden Hilfslieferungen verteilt. Auch die Rentnerin Svitlana Ruban wartet sehnsüchtig: "Wir brauchen das sehr. Einen Monat lang haben wir uns alle zu Hause versteckt. Ich hatte keine einzige Kartoffel mehr. Die russischen Soldaten waren im Zentrum und ich bin die ganze Zeit nicht dorthin gegangen. Ich hatte Angst."
Vom zentralen Platz aus beschoss die russische Armee Städte in der Umgebung. Russische Soldaten übernachteten im Bahnhofsgebäude und in Geschäften, die sie zum Teil plünderten. Bei der Rückeroberung beschoss die ukrainische Seite die russischen Stellungen. Über die Erlebnisse der Besatzung möchten die meisten hier nicht mit uns sprechen, es sei zu schmerzhaft. Aber alle sagen: Ihre Beziehung zu Russland sei jetzt endgültig zerstört. "Ich hatte schon seit dem Krieg im Donbas 2014 eine ganz andere Beziehung zu Russland. Ich will nicht sagen, dass ich sie hasse, aber ich verachte sie. Aber auch nicht alle Russen. Zum Beispiel meine Freundin: Sie weint am Telefon mit mir, sie versteht alles, bittet mich um Verzeihung. Andererseits habe ich sogar Verwandte in Russland, die mir nicht glauben. Die sagen: 'Ihr seid selbst schuld.' Aber woran? Dass wir Ukrainer sind?", sagt Svitlana Ruban.
Die Menschen in Trostyanez sind erleichtert, dass zumindest die Zeit der russischen Besatzung vorbei ist – aber bis auch hier wieder so etwas wie Alltag einkehren kann, wird es noch lange dauern.
Autorin: Mareike Aden
Mitarbeit: Anastasia Obraztsova und Andriy Kramchenkov
Stand: 03.04.2022 20:38 Uhr
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