Mo., 09.07.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Japan: Kinderselbstmorde erschüttern das Land
Es vergeht kaum ein Tag in Japan, ohne dass sich ein Teenager umbringt. Die Zahl der Selbstmorde allgemein ist seit Jahren rückläufig, mit einer Ausnahme: In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen ist Selbstmord die Todesursache Nummer eins. Die Motive für die Selbsttötung sind vielfältig: Jeder Fünfte nimmt sich wegen Depressionen das Leben, jeder Vierte wegen häuslicher Probleme und jeder dritte wegen Mobbings in der Schule. Den Schulen des Landes kommt hinsichtlich der vielen Selbstmore eine besondere Bedeutung zu. Doch oftmals versagen die Schulen.
Yutaka Tanaka möchte nicht erkannt werden. Zu tief sitzt noch immer der Schmerz über den Tod seines Sohnes. Der damals 13-jährige Hiroki nahm sich 2011 das Leben. Er hielt die ständigen Hänseleien und Übergriffe seiner Mitschüler nicht mehr aus: "Er wurde geschlagen und getreten, sein Gesicht beschmiert, seine Lunchbox versteckt. Beim Schulfest wurde er an Händen und Füßen gefesselt, seine Schulbücher und sein Zeugnis zerrissen. Viele Mitschüler haben tatenlos zugesehen – aus Angst, selbst gemobbt zu werden, wenn sie eingreifen", erzählt Vater Yutaka Tanaka.
Der Vater ist davon überzeugt, dass die Lehrer tatenlos zusahen. Um ihre Karriere nicht zu gefährden, hätten sie das Mobbing systematisch verschwiegen. Die Schule bestreitet bis heute, von dem Mobbing gewusst zu haben. Bei einer Durchsuchung wurden jedoch Akten beschlagnahmt, in denen sich Hinweise darauf befanden. "Lehrer zu sein gilt in Japan als heiliger Beruf, dabei sind sie nichts als normale Angestellte. Sie lehnen jede Verantwortung ab. Deshalb bleibt oft ungeklärt, ob sich ein Kind wegen Mobbings das Leben genommen hat oder aus einem anderen Grund. Da wird so getan, als ob nichts gewesen wäre", sagt Yutaka Tanaka.
Eine Kultur des Verdrängens
Der Selbstmord des 13-jährigen Hiroki hat seine Heimatstadt Otsu aufgerüttelt. Bürgermeisterin Naomi Koshi hat den Kampf gegen Mobbing zur Chefsache erklärt. Sie war früher selbst ein Opfer. Eine ihrer ersten Amtshandlungen: Die Gründung einer Spezialeinheit. Sie steht Eltern zur Seite, die in der Schule nicht ernst genommen werden und bietet Schülern anonyme Hilfe per Telefon-Hotline. Mobbing ist für viele Japaner noch immer ein Tabu-Thema: "Mobbing wird oft aus falsch verstandener Rücksicht geheim gehalten – um Kinder, die Opfer geworden sind, nicht zu stigmatisieren. Das ist eine völlig falsche Wertvorstellung", sagt Bürgermeisterin Naomi Koshi.
Anpassung und Harmonie werden in Japan oft höher geschätzt als Vielfalt und Individualität. Schule ist kein Ort, wo selbstbewusste, kreative Meinungen gefragt sind, sondern Geduld und Gruppenzwang. Wer auffällt, muss mit Konsequenzen rechnen. Oder wie es ein japanisches Sprichwort sagt: "Der Nagel, der hervorsteht, wird niedergehämmert." Das Resultat: eine Kultur des Verdrängens.
"Der Direktor hat mich nicht ernst genommen"
Nao Tsuruoka kennt das Gefühl, vor eine Mauer des Schweigens zu rennen. Der heute 18-jährige musste die Schule wechseln, weil seine Eltern umzogen. Als Neuer wurde er von seinen Mitschülern jahrelang drangsaliert, bis er den Schulbesuch verweigerte und sich zu Hause einschloss. "Hikikomori" nennen das die Japaner. "Ich habe immer wieder mit der Schule gesprochen, aber der Direktor hat mich nicht ernst genommen. Auch meine Eltern stießen auf taube Ohren. In der Klasse war ich für alle ein Petzer. Da wurde das Mobbing noch schlimmer", erinnert sich Nao Tsuruoka. Dass er heute mit einem Freund so unbeschwert Gitarre spielen kann, war bis vor Kurzem noch undenkbar. Auch Nao wollte sich das Leben nehmen, als er das Mobbing nicht mehr aushielt. Doch seine Eltern fanden einen Ausweg: eine private Einrichtung, in der jeder sein darf, wie er will. "Normal ist gut, heißt es in Japan oft. Aber was ist schon normal? Dass jeder Mensch verschieden ist, wird bei uns nicht anerkannt. Das ist im Westen ganz anders", sagt Direktorin Keiko Okuchi.
Viele Schüler haben Hemmungen, sich Erwachsenen anzuvertrauen.
Zurück in Otsu: Hier verrichtet Yasue Kitawaki neuerdings als sogenannte Mobbing-Beauftragte ihren Dienst in einer Schule. Sie begrüßt jeden Schüler morgens persönlich und versucht beim Small Talk erste Spuren von Sorgen zu entdecken. Während des Unterrichts fegt sie die Flure – ein Vorwand, um ungestört einen Blick in die Klassenräume werfen zu können. In den Pausen kontrolliert sie Bücher und Tische auf Beleidigungen und Schimpfwörter. Wird sie fündig, hat sie 24 Stunden Zeit, einen Bericht zu verfassen, der direkt ans Rathaus geht. "Ich habe den Eindruck, dass durch die Einführung der Berichte das Bewusstsein der Lehrer für Mobbing stark gestiegen ist. Man beobachtet jetzt einfach strenger, ob es erste Zeichen für Mobbing gibt", sagt Yasue Kitawaki.
Das System zeigt Wirkung: Die Zahl der festgestellten Mobbing-Fälle in Otsu ist sprunghaft gestiegen – von früher 50 pro Jahr auf jetzt mehr als 1.200. Die Dunkelziffer dürfte trotzdem noch darüber liegen. Viele Schüler haben nach wie vor Hemmungen, sich Erwachsenen anzuvertrauen. "Wahrscheinlich wäre es am besten, zu seinen Eltern zu gehen. Aber die machen sich dann vielleicht Sorgen und man will sie auf gar keinen Fall enttäuschen oder traurig machen", sagt Urara Honda, Schülerin der 7. Klasse der Uchide-Mittelschule in Otsu.
Auch er hat das Leiden seines Sohnes nicht mitbekommen: Yutaka Tanaka, Vater von Hiroki, macht sich deshalb bis heute große Vorwürfe: "Er wurde so sehr in die Enge getrieben und ich habe nichts davon gemerkt. Als sein Vater! Dafür bin ich verantwortlich." Auf eine Entschuldigung der Schule wartet der Vater bis heute vergeblich.
Autor: Torben Börgers, ARD Studio Tokio
Stand: 27.08.2019 00:32 Uhr
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