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Frankreich: Korsika ringt um mehr Unabhängigkeit

Frankreich: Korsika ringt um mehr Unabhängigkeit | Bild: ARD Paris

Auf diesen Moment haben viele Korsen lange gewartet: Im September versprach der französische Präsident der Mittelmeer-Insel Korsika mehr Autonomie – eine absolute Zäsur im Zentralstaat Frankreich. Bis Januar sollen nun Pläne erarbeitet werden, wie eine solche Autonomie aussehen kann. Doch die Korsen selbst sind uneinig, wie weit sie sich von Paris lösen wollen

Futterzeit auf den Feldern im Norden Korsikas. Winzer Rémi Casta hilft seinem Freund Sébastien, das Stroh für die Kühe auszubringen. Remi ist 27 Jahre alt, auf Korsika geboren und aufgewachsen. Obwohl er auf französischem Boden die Kühe füttert, fühlt er sich diesem Land überhaupt nicht verbunden. "Wir haben nichts mit Frankreich zu tun. Wir sind nur Franzosen auf dem Papier." Seit mehr als 250 Jahren gehört Korsika zu Frankreich. Aber die beiden verstehen sich vor allem als Korsen. Sie wollen, dass ihre Insel endlich unabhängig von Frankreich wird. "Wir denken auf Französisch, wir essen Französisch, aber wir sind eine Insel, mit eigener Geschichte. Wir wollen als Korsen anerkannt erkannt werden", sagt Sébastien Querci.

Immobilienspekulation machen Korsen wütend

Traditionen schreiben sie hier groß. Mittags essen die Landwirte oft zusammen auf dem Feld, die ganze Familie kommt dazu. Doch so idyllisch ihr Leben hier wirkt, Rémi und seine Freunde sind wütend: "Sehr reiche Menschen kommen hierher, kaufen ein kleines Häuschen im Dorf für eine Million Euro, was vorher gerade mal 100.000 gekostet hat. Wir leiden unter Immobilienspekulation." Sie machen Frankreich dafür verantwortlich, dass sich Einheimische auf der Insel Wohnraum kaum noch leisten können, vor allem die Jungen. Dass das Leben teuer ist, Preise steigen, der Zentralstaat aus dem fernen Paris alles regelt. Probleme, die es so auch anderswo auch im Land gibt. "Für uns ist es aber viel einfacher, unseren Wunsch nach Unabhängigkeit auszudrücken. Wir sind eine Insel. Geografisch sind wir unabhängig. In anderen Regionen, in der Ardèche zum Beispiel, wäre das viel komplizierter", so Rémi Casta.

Rémi und seine Freunden zahlen weniger Steuern auf Lebensmittel als anderswo im Land. Eines von mehreren Privilegien der Korsen. Aber ihnen reicht das nicht. Auf Korsika ist der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit weit verbreitet. Überall auf der Insel sind Graffitis. Darauf "Franzosen geht nach Hause" oder das Logo der separatistischen Untergrundgruppe FLNC, die korsische nationale Befreiungsfront — auch in Brando im Nord-Osten, einem beliebten Urlaubsort. Patrick Sanguinetti ist hier Bürgermeister. Die Nacht vom 8. Oktober wird er nicht vergessen. "Um 22:30 bekam ich den Anruf eines Bewohners einer kleinen Wohnanlage, dort oben auf dem Hügel. Er sagte, dass da eine Gasflasche im Garten liegt." Vier Explosionen erschüttern der Ort, verletzt wird niemand. Das Ziel: Ferienhäuser. Insgesamt 20 Anschläge gibt es an dem Abend auf der Insel. Die Untergrundgruppe FLNC bekennt sich: Es gebe keine gemeinsame Zukunft mit Frankreich, steht im Bekennerschreiben. "Es ist nur eine absolute Minderheit der Korsen, die das gut findet. Das sind winzige Gruppen. Mehr Unabhängigkeit okay, aber es gibt doch andere Wege als das", sagt Sanguinetti.

Verhandlungen mit der Zentralregierung

Eine Frau hält ein Foto des Separatist Yvan Colonna hoch.
Die Zentralregierung in Paris fürchtet noch mehr Gewalt. | Bild: ARD Paris

Nach dem gewaltsamen Tod des als Helden verehrten Separatisten Yvan Colonna im Gefängnis vergangenes Jahr gab es auf der Insel Proteste – und kleinere Anschläge. Der Druck auf die französische Regierung stieg, Korsika mehr Autonomie zuzugestehen. Die Zentralregierung fürchtete noch mehr Gewalt. Seitdem laufen Verhandlungen. Auch Unternehmer Ghjuvan’Carlu Simeoni fordert mehr Autonomie für sein Korsika. Denn, bisher bleiben viele Probleme vor Ort ungelöst. So ist Korsika noch immer die ärmste Region im Land. "Es steht nicht zur Debatte, ob wir Franzosen sind oder nicht. Wir müssen stärker für uns selbst verantwortlich sein – und Fragen, die uns konkret betreffen, auch vor Ort beantworten", sagt Ghjuvan’Carlu Simeoni. Genau darüber verhandeln sie aktuell: ob Korsika eigene Gesetze verabschieden darf. Eine Premiere für das Land, in dem das meiste zentral aus Paris gesteuert wird.

Ghjuvan’Carlu versucht selbst etwas zu verändern. Er hat einen Termin bei der örtlichen Brauerei "Pietra". Sein Unternehmen FemuQui sammelt Geld von Privatleuten und Banken – und fördert damit Firmen wie die Brauerei. Denn von kleinen und mittleren Unternehmen gibt es auf Korsika viel zu wenige: "Wir müssen die wirtschaftlichen Grundlagen schaffen, um unabhängiger von Frankreich zu werden. Wie soll das sonst funktionieren, wenn wir keine Wirtschaft, keine Arbeitsplätze, keine Wertschöpfung haben?"

Zurück zu Winzer Rémi Casta im Norden der Insel: Mit seinem Freund bringt er Rankgitter für die jungen Weinstöcke an. Er bleibt skeptisch, dass es Frankreich mit der Autonomie wirklich Ernst meint. Obwohl schon Anfang des Jahres erste Ergebnisse für mehr Selbstbestimmung der Korsen bekannt werden sollen.

Autorin: Friederike Hofmann, ARD-Studio Paris

Stand: 17.12.2023 20:07 Uhr

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