"Wir gucken hinter die Verbrechen"
Interview mit Sven Martinek und Ingo Naujoks zur sechsten Staffel
Im gemeinsamen Interview sprechen Sven Martinek und Ingo Naujoks über zerrüttete Familien, mitfühlende Kommissare und ihr soziales Engagement.
Polizisten sind zur Neutralität verpflichtet, sollen sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Gilt das Gebot auch für Fernsehkommissare?
SVEN MARTINEK: Ich habe meine Zweifel, dass es Polizisten kaltlässt, was sie im Einsatz erleben. Denken wir nur an den G20-Gipfel in Hamburg, bei dem es auch seitens der Polizei heftige emotionale Ausbrüche gegeben hat. In diesem Beruf muss man lernen, damit umzugehen und die Erlebnisse zu verarbeiten. In "Morden im Norden" tauschen sich die Kommissare untereinander aus, wenn ein Fall sie stark anfasst. Am Ende sitzt das Team immer auf dem Steg zusammen, um das Geschehene zu besprechen. Das ist ein wichtiger Teil unserer Geschichten.
INGO NAUJOKS: In der Realität halte ich es schon für erstrebenswert, dass die Kollegen ihre Emotionen außen vor lassen und eine gewisse Distanz wahren. Kommissare sollen ermitteln, Indizien sammeln und Beweise vorlegen, aber letztlich dem Richter überlassen, Recht zu sprechen. Nur weil mir einer nicht gefällt, er vielleicht die "falsche" Hautfarbe hat oder ich noch eine Rechnung mit ihm offen habe, kann ich nicht hingehen und ihm eins überbraten. Bei "Morden im Norden" haben wir zwar den Anspruch, die Arbeit der Polizei so wahrhaftig wie möglich darzustellen. Aber wir wollen nicht die Realität kopieren, was ja total fad wäre, sondern die Leute unterhalten.
MARTINEK: Bei der Flut der Krimis in Deutschland wäre die halbe Bevölkerung tot, wenn alles wahr wäre, was wir im Fernsehen erzählen. Allein bei 16 Folgen "Morden im Norden" sind 16 Tote zu beklagen. Krimis dienen dazu, Extreme zu erzählen.
Um welche Extreme geht es?
MARTINEK: Es ist uns wichtig, die Umstände einer Tat zu erzählen. Viele Morde sind Beziehungstaten in zerrütteten Familien. Wir rennen als Kommissare ja nicht irgendwelchen Totschlägern hinterher, die aus Mordgier Menschen umbringen. In unseren Krimidramen geht es darum, dass familiäre Konflikte derart eskalieren können, bis einer tot auf dem Boden liegt.
NAUJOKS: Ich hoffe, das bleibt die Handschrift von "Morden im Norden": Eine Person ist zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und trifft die falsche Entscheidung. Von einem Moment auf den anderen entgleitet ihr das ganze Leben.
Finn Kiesewetter lässt sich oft von Gefühlen treiben, Lars Englen hält sich an die Vorschriften. Wie erklären sich die Unterschiede?
NAUJOKS: Im Fernsehen ist ein Ermittler-Duo nur dann spannend, wenn sich die Protagonisten ein wenig reiben. Abgesehen davon spiegelt sich in Englens Paragraphentreue meine ganz persönliche Position wider. Ich meine, wer den wichtigen Beruf eines Kriminalpolizisten oder eines Richters ausübt, der sollte sich an Regeln halten. In unserer Gesellschaft ist es elementar wichtig, dass jemand darauf achtet, dass die Parameter eingehalten werden.
Zeichnet die beiden eine besondere Empathie für Opfer und Täter aus?
NAUJOKS: Leider bringt uns das Mitgefühl immer wieder in einen Zwiespalt. Wenn eine Frau ihren gewalttätigen Ehemann hinterrücks erschlägt, weil sie es nicht länger erträgt, dass ihre Kinder mit blauen Flecken in die Schule gehen, dann ist es – objektiv gesehen – Mord. Aber da wir Kommissare nun einmal so mitfühlende Menschen sind, schlagen wir uns auf die Seite der Frau und denken insgeheim: Wie gut wir sie verstehen können! In solchen Fällen möchten wir die Zuschauer spüren lassen, wie zerrissen die Kommissare sind.
MARTINEK: Der Mord selber bringt noch keine Emotionalität in die Geschichten. Was die Zuschauer bewegt, ist die nachfolgende Untersuchung, wie es zu der schrecklichen Tat kommen konnte. Wir gucken hinter das Verbrechen und hinter die Stirn des Täters.
Welche Geschichten gehen Ihnen persönlich nahe?
NAUJOKS: Ich glaube, weil wir Kommissare spielen, sind wir in besonderer Weise sensibilisiert für wirkliche Kriminalfälle und für Ungerechtigkeiten. Wir haben relativ häufig das Bedürfnis, privat über Verbrechen zu diskutieren, die in der Zeitung stehen, zuletzt über den Mord am Politiker Walter Lübcke.
Wann rastet Finn Kiesewetter aus?
MARTINEK: Wenn ihn zum Beispiel die Vorschriften daran hindern, in ein Haus einzusteigen, obwohl er weiß, hier ist Gefahr in Verzug. Oder wenn er mit Vorurteilen konfrontiert wird: Ach, der Junge hat nur Volksschule, dann wird er wohl der Täter sein. Dann dreht Kiesewetter durch. Auf der anderen Seite pflegt er selber seine kleinen Vorurteile, vor allem gegenüber denen da oben. Wenn Kiesewetter so eine neureiche Hütte betritt, muss ihn sein Partner zur Räson bringen: schön freundlich bleiben! Er ist einfach ein Rumms-Junge mit Ecken und Kanten. Nur den Guten zu spielen, ist doch langweilig.
Kommentare