Interview mit Autor Holger Karsten Schmidt

"Die Toten von Marnow" - Vierteiliger Thriller ab 13. März 2021 im Ersten
"Die Toten von Marnow" - Vierteiliger Thriller ab 13. März 2021 im Ersten  | Bild: NDR/ARD Degeto

Sie entwerfen in Ihren Drehbüchern zu "Die Toten von Marnow" einen vielschichtigen Plot, in dessen Zentrum ein ungewöhnliches Ermittler-Duo steht, das auf Mörderjagd geht. Das Privatleben der beiden nimmt dabei viel Raum ein. Hatten Sie beim Schreiben eher einen Thriller oder ein emotionales Drama im Kopf?

Es ist ein Krimi, der sich zu einem Thriller auswächst und das persönliche Drama der Kommissare in den Mittelpunkt stellt. Frank Elling ist der treue und liebende Familienvater, aber diese Fassade ist brüchig. Da kämpft jemand um die Liebe seiner Frau, die Zuneigung seiner Tochter und die Gesundheit seiner dementen Mutter. Dafür reicht sein Kommissarsgehalt nicht, und das macht ihn anfällig für Bestechung. Wenn ich seinen privaten Hintergrund nicht beiläufig miterzählen würde, wäre er einfach nur ein korrupter Polizist. So ist er immer noch einer, aber ich werbe beim Zuschauer um Verständnis dafür, dass er schwach geworden ist. Seine Kollegin Lona Mendt ist auf den ersten Blick das Gegenteil von Elling. Sie ist unabhängig und lebt im Wohnmobil. Auf den zweiten Blick wird klar, warum sie die ganze Zeit auf dem Sprung ist. Und das erklärt, warum sie keine Konsequenzen ihres Handelns mehr scheut.

Elling nimmt Geld. Lona deckt ihn. Bald sind beide voneinander abhängig und müssen sich bei ihren Ermittlungen gegenseitig vertrauen, sonst gehen sie zusammen unter. Hat Sie interessiert herauszufinden, wie sich Menschen verhalten, wenn es um alles geht?

Ich finde es grundsätzlich spannend zu erzählen, was extreme äußere Umstände mit Menschen machen. Ich breche in meinen Geschichten die Figuren gerne auf. Menschen charakterisieren sich durch ihr Verhalten: Wer einen Konflikt hat, muss sich entscheiden. Und wofür sich jemand entscheidet – und auch wogegen – erzählt uns etwas über dessen Persönlichkeit. "Wenn es um alles geht" ist also ein dramaturgisches Mittel, um dadurch Schicht für Schicht die Charaktere von Elling und Mendt freizulegen. Beide wachsen über sich hinaus und entdecken eine absolut loyale Person in dem jeweils anderen. Die Kommissare sind dabei nicht einfach gut oder böse, sie sind ambivalente Figuren, weil sie teilweise zu sehr illegalen Mitteln greifen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.

Die brutale Mordserie steht im Zusammenhang mit einem dunklen Kapitel der deutsch-deutschen Vergangenheit und beruht offenbar auf wahren Begebenheiten ...

Speziell in den Achtzigern haben westliche Pharmaunternehmen zum Teil ohne das Wissen der ostdeutschen Patienten Medikamente getestet – aber mit Wissen, Segen und Billigung der DDR-Führung, die die Kliniken angewiesen hat, diese Tests durchzuführen. Denn im Gegenzug flossen Devisen, um die bankrotte Staatskasse zu füllen. Das hat teilweise zu gravierenden gesundheitlichen Schäden geführt, und es soll sogar Todesopfer gegeben haben. Mich hat aber vor allem die Allgemeingültigkeit hinter der Geschichte interessiert. Wir wissen ja, wie es funktioniert: Follow the money. Was hier zu teuer ist, macht man in Ländern, wo man es günstiger bekommt. Damals hat man in der DDR die Testreihen günstig bekommen, heute passiert das vielleicht in Afrika oder Asien. In Indien bekommt man eine Niere für ein paar Dollar. Es hat sich nichts geändert – nur verlagert.

Aber auch die Schuldigen, die Ärzte, die die Tests durchgeführt haben, sind nicht nur skrupellose Akteure. Wollten Sie sich einem eindeutigen Schwarz-Weiß-Schema entziehen?

Die Schattierungen waren mir wichtig. Das manifestiert sich auch bei dem Arzt, der in "Die Toten von Marnow" die Tests durchführte und dadurch gleichzeitig selbst auf West-Medikamente hoffte, um seine Tochter zu retten. Das Thema kommt so auf eine ethische Ebene. Was dürfen wir opfern, um jemanden zu retten? Sollen wir aus ethischen Gründen tatenlos zuschauen, wie jemand zugrunde geht, ohne es wenigstens zu versuchen? Bei diesen Fragen bewegen wir uns in ethischen Grauzonen, und die Bösen sind nicht so böse, wie das zunächst erscheint, sondern auch sie haben gute Grunde . Ich bin überzeugt davon, dass die Lasur der Zivilisation nur hauchdünn über unserer Gesell - schaft und jedem Einzelnen liegt . Wie dünn, können Sie sehen, wenn zu Coronazeiten diskutiert wird, ob 80-Jährige eigentlich nicht ohnehin schon lange genug gelebt haben.

Lona und Elling entwickeln ein eigenwilliges Verständnis von Gerechtigkeit, was nicht unbedingt mit dem gängigen Rechtsverständnis übereinstimmt. Wie weit sind beide bereit zu gehen?

Weit . Denn Recht und Gerechtigkeit sind oftmals zwei Paar Schuhe – so auch hier. Was tun, wenn Sie den Verantwortlichen für mehrere Morde vor sich haben, den Sie nicht verhaften können, weil es das Recht nicht erlaubt? Dieser moralische Ritt auf der Rasierklinge war einerseits beim Schreiben ein Spaß, ist aber mit viel Feinarbeit an den Figuren verbunden und der Versuch, die Zuschauer dazu zu verführen mitzugehen. Und sich zu fragen: Würde ich das auch tun?

Sie haben zu dem Stoff einen gleichnamigen Roman geschrieben und schon oft bemängelt, dass ein Fernsehfilm einer komplexen Thematik meist nicht gerecht wird. Nun wurden Ihre Drehbücher als Mehrteiler von 4 x 90 Minuten verfilmt. Sind Sie zufrieden?

Ja. Üblicherweise müssen Drehbuchautoren einen 400-seitigen Roman in 90 Minuten pressen – dabei geht zwangs - läufig immer viel verloren. "Die Toten von Marnow" bildet eine erfreuliche Ausnahme, weil der NDR und die Degeto mir die Zeit und den Raum gewährt haben, diese Charaktere differenzierter zu gestalten und die Geschichte in der ihr angemessenen Komplexität zu erzählen. Und Andreas Herzog hat das mit einem engagierten Team und einer tollen Besetzung großartig inszeniert. Da kann man nur zufrieden sein.

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