Interview mit den Machern
Hans-Christian Schmid und Bernd Lange
Was hat Sie an dem Format Serie gereizt? Inwiefern unterscheidet sich das Serienformat vom Kino?
HANS-CHRISTIAN SCHMID: Ich war einfach neugierig, wie sich eine Geschichte erzählen lässt, wenn man sechs statt eineinhalb Stunden Zeit dafür hat. Wahrscheinlich wie bei einem Autor, der sein Leben lang Novellen geschrieben hat und die Gelegenheit bekommt, einen Roman zu schreiben. Spätestens seit den "Sopranos" wissen wir, in welchem Maß sich das Format Miniserie für übergreifende Erzählbögen und anspruchs volle Stoffe eignet. Es bietet die Chance, die Entwicklung einer ganzen Reihe von Figuren vergleichsweise differenziert zu schildern.
BERND LANGE: Mein Eindruck ist, dass eine Serie vor allem Vorteile bietet, wenn man anhand von mehreren Figuren ein Sujet beleuchten will. Man kann mehrere Facetten derselben Sache darstellen. Das kostet Zeit, die ein zweistündiger Kinofilm nicht hat. Ohnehin ist es schwerer geworden, in Deutschland Filme für das Kino zu schreiben, die sich nicht bereits im Vorfeld in eine der bestehenden Schubladen einsortieren lassen.
Sie haben das Drehbuch zu "Das Verschwinden“ gemeinsam geschrieben. Wie ist die Idee zu der Geschichte entstanden? Und wie gestaltete sich die Zusammenarbeit?
HANS-CHRISTIAN SCHMID: Wie so oft bei mir geht das auf eine Zeitungsmeldung zurück. Vor Jahren hatte ich eine Geschichte gelesen, in der es um eine verschwundene junge Frau ging und darum, welche Verunsicherung ihr Verschwinden bei den Menschen in der Kleinstadt, in der sie lebte, auslöste. Für einen Spielfilm bot sich die Geschichte aber nicht an. Um sie wirklich interessant erzählen zu können, hätte es mehr als eineinhalb oder zwei Stunden Zeit gebraucht. Was uns zusätzlich davon abhielt, das Projekt in Angriff zu nehmen, war die Fülle an Ermittlergeschichten, die es schon gibt. Gemeinsam haben wir dann überlegt, dass es eine Weile dauern kann, bis die Polizei tätig wird, wenn eine erwachsene Person verschwindet, die ja auch selbst entschieden haben könnte, die Kleinstadt zu verlassen. So ergab sich die Chance, einen Großteil der Ermittlungen der Mutter der Verschwundenen zu übertragen. Unsere Hauptfigur ist somit existenzieller in das Geschehen involviert als ein herkömmlicher Ermittler und bereichert diese zentrale Rolle damit um eine emotionale und persönliche Ebene. Mit der Entscheidung für das Format der Miniserie bot sich uns ein Rahmen, der es erlaubte, die Abgründe und sozialen Verwerfungen einer äußerlich wohlgeordneten, kleinstädtischen Gemeinschaft differenziert zu erzählen.
BERND LANGE: Mich hat auch der Drogenhandel 2.0 interessiert, der seit Jahren an der bayerischtschechischen Grenze stattfindet. Hier sind die Strukturen eben nicht mafiöshierarchisch wie bei anderen Suchtmitteln, sondern letztlich ganz basisdemokratisch. Weil der Handel mit Crystal Meth in Tschechien nicht so streng bestraft wird wie in Deutschland und die Droge relativ günstig ist, kann jeder, der es möchte, ganz einfach zum Dealer werden. Ich habe mich gefragt, was diese Möglichkeit, schnell viel Geld verdienen zu können, mit Menschen macht.
Im Mittelpunkt der Geschichte von "Das Verschwinden" steht die Suche von Michelle nach ihrer plötzlich spurlos ver- schwundenen Tochter Janine. Wie würden Sie Michelle, die von Julia Jentsch gespielt wird, beschreiben? Was war Ihnen bei der Zeichnung der Hauptfigur besonders wichtig?
HANS-CHRISTIAN SCHMID: Michelle ist eine alleinerzie hende Mutter, die versucht, ihren schwierigen Alltag einigermaßen zu meistern. Eine im besten Sinn durchschnittliche Frau, die von dem, was ihr widerfährt, total überfordert ist. Sie stolpert in diese Geschichte hinein, von Tag zu Tag wird ihr bewusster, dass ihre Tochter nicht einfach so wieder auftauchen wird. Michelle ist es als Alleinerziehende gewohnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen – was sie nicht selbst anpackt, bleibt unerledigt. Das kommt ihr wahrscheinlich zugute.
BERND LANGE: Dazu kommt, dass Michelle alles andere als ein perfekter Mensch ist. Sie ist eine Mischung aus einer Helikoptermutter, die ihre Kinder nicht loslassen kann, und jemandem, der gerade deswegen oft darunter leidet, dem eigenen Anspruch nicht gerecht zu werden. Diese Ängste trägt sie mit sich herum und fragt sich, was sie falsch gemacht hat. Dabei entwickelt sie auf der Suche nach Antworten eine unglaubliche Energie – sie ist auch bereit, sich unangenehmen Einsichten über sich selbst zu stellen. Julia Jentsch stellt das wirklich sehr gut dar.
Die Hauptfigur wird von Julia Jentsch verkörpert. Was zeichnet Julia Jentsch aus und macht die Arbeit mit ihr besonders?
HANS-CHRISTIAN SCHMID: Es ist die Qualität und der Facettenreichtum ihres Spiels, die Fähigkeit, sich zurückzunehmen, aber auch, wenn nötig, all das nach außen hin sichtbar zu ma chen, was im Inneren der Figur vorgeht. Das empfinde ich als besonderes Talent, diese Offenheit und Durchlässigkeit. Gerade über die lange Strecke ist es wichtig, variieren zu können und die Nuancen im Auge zu haben.
"Das Verschwinden" entfaltet über mehrere Folgen eine horizontal erzählte und spannungsgeladene Kriminalgeschichte und zeichnet darüber hinaus das Porträt mehrerer Familien in einer Kleinstadt. Warum haben Sie diese zwei Schwerpunkte gewählt?
BERND LANGE: In HansChristians und meiner Zusammenarbeit nehmen familiäre Konstellationen eine zentrale Stellung ein. Insofern war dies ein organischer Weg. Aber wenn man über Crystal Meth erzählt, ist Kriminalität meistens nicht weit weg. Wir wollten die Familiendynamiken realistisch darstellen und genauso glaubhaft sein in der Schilderung der Kriminalität, die sie beeinflusst.
HANS-CHRISTIAN SCHMID: Der übergreifende Spannungs bogen der Krimihandlung hält die einzelnen Erzählstränge, die sich mit den Familien beschäftigen, zusammen. Wir wollten die besten Elemente eines handlungsorientierten Thrillers mit einer präzisen Beschreibung vom kleinstädtischen Leben in der Gegenwart verbinden. Es ging uns um die Beschreibung der Familien und das Verhältnis der Generationen zueinander. Unser erzählerischer Fokus liegt darauf, sichtbar zu machen, woher die tief im Inneren verborgene Verunsicherung junger Menschen kommt. Eine junge Generation, der die Lebensentwürfe oder Werte der Elterngeneration nicht erstrebenswert erscheinen. Im Grunde bräuchten sie sich nur ins gemachte Nest zu setzen, wollen das aber offenbar gar nicht. Die Frage ist: Warum gelingt dem einen nicht, was für den anderen fast selbstverständlich scheint? Ein halbwegs zufriedenes, vielleicht sogar glückliches und erfülltes Leben zu führen. Warum brechen die Jugendlichen mit dem Fortschrittsgedanken der Eltern?
BERND LANGE: Erweitert man die Prämisse von der jungen Generation ohne Perspektiven, ließe sich sagen, dass es eine Elterngeneration gibt, die nicht ganz so unbescholten und frei von Schuld an den Missständen ist, wie sie sich nach außen hin darstellt. Die Lügen und Geheimnisse, die sich über die Jahre in deren Lebensentwürfen breitgemacht haben, sind die am konkretesten greifbaren Ursachen für das Unglück ihrer Kinder. Dies wird für den Zuschauer am Ende immer deutlicher.
Die junge Generation in "Das Verschwinden“ findet sich im Weltbild der Eltern nicht wieder, was auf beiden Seiten zu einer Entfremdung führt. Einen umso wichtigeren Stellenwert nehmen Freundschaften in ihrem Leben ein. Was bedeuten der jungen Generation ihre Freundschaften?
BERND LANGE: Jede der Generationen in "Das Verschwinden" will ihren eigenen Weg gehen. Trotzdem, wie das oft in Fami lien so ist, kommen sie nicht voneinander los. Ich beobachte an meinen eigenen Kindern, dass meine Generation weniger bereit ist, Reibungsflächen zu bieten. Mit zunehmendem Älter werden der Kinder falle zumindest ich in die Rolle des er wach senen Freun des. Umso verwunderlicher stelle ich es mir vor, wenn die Kinder diese Freundschaft nicht erwidern, sondern in vielem die Eltern außen vor lassen. Eigentlich ein natürlicher Prozess, doch wir sind erstaunt, warum sich die Kinder nicht mit allem den Eltern anvertrauen, und schließen daraus, dass wir oder sie etwas falsch gemacht haben. Dabei suchen sie nur ihren eigenen Weg. Dazu gehört der Austausch mit ihren altersgleichen Freunden.
Die Dreharbeiten haben von August bis Dezember stattgefunden. Was sind die Herausforderungen über solch einen langen Drehzeitraum?
HANS-CHRISTIAN SCHMID: "Das Verschwinden" spielt an acht aufeinanderfolgenden Tagen im Oktober. Wir haben Anfang August an einem Waldsee gedreht, da war noch Hoch sommer, und Ende November auf dem Vietnamesenmarkt in Tschechien, da fiel schon der erste Schnee. Die Natur verändert sich in diesen vier Monaten, wir mussten darauf reagieren und haben versucht, wichtige Außenszenen früh im Drehplan unterzubringen. Mit einem zweiten Team haben wir zusätzliche Totalen und Stadtansichten gedreht, die zur Oktober-Stimmung passen. Auch mit den eigenen Kräften muss man anders um gehen als bei einem Spielfilmdreh. Eine Miniserie zu drehen, ist eher ein Langstreckenlauf als ein Sprint. Ich fand das aber ganz an genehm. Irgendwann stellte sich das Gefühl einer gewissen Routine ein, als würde man jeden Morgen zur Arbeit gehen. Ich hätte das auch noch weiter durchgehalten.
Neben Julia Jentsch konnte ein hervorragendes Ensemble für "Das Verschwinden" gewonnen werden. Welche Kriterien waren beim Casting ausschlaggebend?
HANS-CHRISTIAN SCHMID: Beim Casting finde ich wichtig, wie ich mit jemandem über die Rolle sprechen kann, wie fein und präzise die Mittel eines Schauspielers sind, entsprechend zu rea gieren. Wie sehr will ich auf den Typ besetzen, wie sehr gegen den Typ, gegen die Erwartung. Wird es langweilig, wenn ich jemanden eine Szene drei Mal spielen sehe, oder ist es immer noch interessant? Das sind die Dinge, auf die ich achte.
Ob jemand bekannt oder unbekannt ist, ist für mich zweitrangig. So spielen neben etablierten Schauspielern wie Nina Kunzendorf, Sebastian Blomberg, Stephan Zinner, Martin Feifel oder Godehard Giese auch echte Entdeckungen wie Johanna Ingelfinger, Isabella Bartdorff oder Mehmet Ateşçi tragende Rollen.
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