Die Macht des Extremismus
Gespräch mit Autor Marco Wiersch
Rebecca, die Titelfigur des Tatorts, wurde entführt und war jahrelang eingesperrt. Ihr Entführer hat Rebecca aber nicht nur in seinen "Besitz" gebracht, er hat sie auch auf bestimmte Weise programmiert. Worum ging es Ihnen bei dieser Konstellation?
Die Idee zu dieser Geschichte ist mehr als zehn Jahre alt. Damals berichteten die Medien – wie heute auch – viel über religiösen Extremismus. Ich fragte mich, ob ein religiöser Fanatiker sich von seinem Glauben distanzieren könnte, wenn Kernpunkte dieses Glaubens nachweisbar falsch wären. Dafür habe ich eine Pseudoreligion erdacht, erfunden von einem Entführer zur Beherrschung seines Opfers.
Wieso dauerte es über zehn Jahre, bis die Geschichte umgesetzt werden konnte?
Ich diskutierte die Idee mit einer SWR-Redakteurin, doch wir fürchteten beide, kranke Menschen mit dieser Geschichte auf Ideen zu bringen. Leider stellte sich heraus, dass diese Menschen unsere Ideen nicht brauchten. Nach dem Bekanntwerden der Fälle Kampusch und Fritzl gab es viele Krimis, die sich an den sensationalistischen Aspekten der Fälle weideten. Ich hatte zunächst wenig Lust, mich da einzureihen. Schließlich hat der SWR mich ermutigt, das Buch so zu schreiben, wie es mir vorschwebte.
Sie brauchten für Rebecca und das Erziehungsprogramm eine besondere Sprache. Wie findet man denn dazu, orientierten Sie sich an Vorbildern?
Ich hatte inzwischen natürlich viel zu den realen Fällen gelesen und davon auch einiges ins Buch einfließen lassen. Aber die von mir geschilderte Geschichte ist sehr speziell. Letztlich konnte ich als Autor nur versuchen, mich in den Entführer einzufühlen wie in jeden anderen Charakter.
Begegnen wir in dem Entführer dem ultimativ Bösen?
Ich glaube nicht, dass es das ultimativ Böse gibt. Die Beweggründe hinter so einer Tat sind nur allzu menschlich: Einsamkeit, Minderwertigkeitsgefühle und die Sehnsucht nach Liebe. Was die Tat nicht weniger verabscheuungswürdig macht.
Die Kommissare haben nicht nur ein Verbrechen aufzuklären, sie geraten auch in einen Konflikt zwischen dem Schutz des Opfers und dem Druck, Informationen zu beschaffen. Für Kai Perlmann verstärkt sich das noch durch seine besondere Verantwortung in diesem Fall. Wie sahen Sie die Konstellation der beiden Ermittler in diesem Fall?
Für mich war es spannend, im vorletzten Konstanzer Fall den oft etwas stiefmütterlich erzählten Kai Perlmann in den Mittelpunkt zu rücken. Er mag das Gefühl, Rebecca zu helfen. Je enger seine Bindung zu dem Mädchen wird, desto unklarer wird seine Rolle: Ist er Polizist, Aushilfspsychologe oder neuer Erzieher? Das führt zu Spannungen auch mit Klara Blum, die eigentlich die Verhörexpertin ist, aber an Rebecca lange nicht herankommt.
Ganz nebenher erzählt dieser Tatort ja auch eine Coming-of-Age-Geschichte?
Der Entführer hat Rebecca auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkinds gehalten. In vielen, zum Teil beiläufig erzählten Entwicklungsschritten wird sie zu einer Jugendlichen, die ihren Platz in der Welt finden könnte – wenn die Macht, die ihr alter "Erzieher" noch immer über sie hat, nicht zu stark ist.
Im Tatort haben Sie die Chance, Geschichten wenigstens einen Silberstreif von Gerechtigkeit oder Neuanfang zu verschaffen. Ist dieses Moment des Optimistischen Ihnen wichtig?
Geschichten ohne Hoffnung wirken auf mich ähnlich unrealistisch wie perfekte Happy Ends. Solange wir leben, gibt es den Silberstreif fast immer. Doch das bedeutet nicht, dass die Wunden unserer Vergangenheit je völlig heilen.
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