Drehbuchautorin Karlotta Ehrenberg über den Fall

Trotz des Verbots kam Marlon am Morgen des Schulfests voll Entschlossenheit auf den Schulhof. Er wollte unbedingt bei den Vorführungen mitmachen.
"Tatort: Marlon" | Bild: SWR / Christian Koch

Autorin Karlotta Ehrenberg über den Fall

Die Idee für diesen Krimis kommt – wie man leicht erahnen kann – aus meinem Leben. In der Klasse meines Sohnes gab es ein Kind, das sich sehr aggressiv verhielt und nicht nur beim Lehrpersonal, sondern auch bei den Eltern für viel Unmut sorgte. Ich konnte das einerseits verstehen – andererseits hatte ich den Eindruck, dass in den Diskussionen einiges schief lief.

Immer ging es um die Frage, wer denn nun schuld an der Situation sei: die Eltern, das Schulperson, die Ärzte? Um den Hintergrund für das Verhalten des Kindes ging es so gut wie gar nicht. Dabei ist Aggression ja immer Ausdruck für Gefühle, allen voran Wut, die stets einen konkreten Anlass haben, weshalb man sich damit beschäftigen sollte. Dieser Ansicht ist der Familientherapeut Jesper Juul, der zum Thema „Wut“ das gleichnamige Buch geschrieben hat. Juuls Ansatz gab die Richtung für die Krimihandlung vor: Die Kommissarinnen versuchen zu begreifen, wie und warum eine Situation entstehen konnte, die alle Beteiligten an ihre Grenzen brachte. Dafür müssen sie die Perspektive des Kindes annehmen. Um den "Fall Marlon" zu lösen, begeben sich Lena Odenthal und Johanna Stern in Marlons Welt.

Dass dies erst jetzt, also nach Marlons Tod, geschieht, ist das Tragische an der Geschichte. Hätte sich jemand im richtigen Moment anders verhalten und dem Jungen angenommen, hätte sein Tod womöglich verhindert werden können, ergeben die Ermittlungen. Odenthal und Stern verstehen aber auch: Sich auf ein Kind wie Marlon einzulassen, ist alles andere als einfach. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Einer ist, dass es nur sehr wenig Menschen gibt, die gelernt haben, mit Wut umzugehen, mit der eigenen genauso wie mit der von anderen. Wut darf nicht sein; sie wird verdrängt, tabuisiert, verurteilt und auf verschiedene Weise sanktioniert. Das ist fatal, denn Wut gehört zum Menschen wie jede andere Emotion auch und ist für die psychische Gesundheit nötig. Weshalb es so wichtig ist, sich mit ihr zu beschäftigen.

Das Problem: Sich mit einem Kind wie Marlon derart auseinanderzusetzen, kostet sehr viel Kraft und Zeit. An den Schulen aber gibt es viel zu wenig Personal. Und das ist ständig am Limit. Das haben die Gespräche, die ich mit Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen , Psycholog*innen sowie einer Mitarbeiterin des Jugendamtes während meiner Recherche geführt habe, ganz klar gezeigt. Von Unwillen kann man hier in den seltensten Fällen sprechen. Und wenn, dann folgt dieser Unwille aus einem Gefühl der Ohnmacht und auch Frustration. Wenn man ständig die Erfahrung macht, seine Arbeit nicht gut machen zu können, weil die Umstände dies nicht zulassen, wenn man nicht die angemessene Anerkennung und den nötigen Respekt bekommt, aber ständig harter Kritik ausgesetzt ist, dann hat man irgendwann keine Lust mehr, sich zu engagieren und schiebt unbequeme Probleme – und mit ihnen die Kinder – von sich weg. "Altbewährte" Methoden wie Strafen,  Schulverweise und andere Formen des sozialen Ausschlusses sind hier die logische Konsequenz. Sollen sich doch andere um das Problemkind kümmern. Anderes pädagogisches Personal. Und natürlich die Eltern – die ebenso überfordert sind.

Das ist eine andere Beobachtung, die ich gemacht habe: wie schnell und hart heutzutage über Eltern geurteilt wird. Wenn das Kind sich ‚auffällig‘ verhält, dann werden sofort Rückschlüsse auf die Eltern gezogen. So wie das Personal in der Schule stehen auch sie unter ständiger Beobachtung und dem Druck, das Kind stets ‚im Griff zu haben‘. Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch unmöglich, mündet also ebenfalls in Ohnmacht, Frust und Wut. Die sich meist gegen den wendet, der ‚schuld‘ ist an dem ganzen Stress: das Kind. Die Wut der Erwachsenen ist anders, sie äußert sich meist nicht in physischer Gewalt, sondern vor allem in verbalen Attacken und strengen erzieherischen Maßnahmen, die jedoch nicht minder gewaltvoll sind und ebenfalls großen Schaden anrichten.

Natürlich findet sich am Ende des Krimis ‚der eine‘ Täter. Das Hauptergebnis von Odenthals und Sterns Ermittlungen ist jedoch ein anderes: Von allen Erwachsenen wurden Fehler gemacht, die – in ihrer Gesamtheit – zum tragischen Tod des Kindes geführt haben.

Mindestens so wichtig ist noch eine andere Erkenntnis: Schuldzuweisungen sind nicht das richtige Mittel. Stattdessen sollten sich Eltern und Schulpersonal zusammentun und sich gemeinsam für die Kinder einsetzen. Auch die Politik ist gefragt. Solange sich die Verhältnisse an den Schulen nicht verbessern, wird es tragische Schicksale wie das von Marlon immer wieder geben.


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