Interview mit Regisseur Niki Stein
Niki Stein
Drehbuch
Niki Stein studierte Filmregie an der Hamburg Media School und gewann mit seinem ersten Kurzfilm "Vorsicht Sepp!" 1984 den Hauptpreis beim Europäischen Kurzfilmfestival. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen u. a. die NDR Produktion "Der Mann im Strom" nach dem gleichnamigen Roman von Siegfried Lenz (2005, Regie), "Bis nichts mehr bleibt" (2008), wofür Niki Stein sowohl für das Drehbuch als auch für die Regie mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde, "Rommel" (2011, Buch und Regie) und die "Tatort"-Episode "HAL" (2016, Buch und Regie). Aktuell in Entwicklung ist der Fernsehfilm "Louis van Beethoven" (Buch und Regie).
Darüber hinaus übt Niki Stein Lehrtätigkeiten u. a. an der Internationalen Filmschule Köln (ifs) und im Aufbaustudium Film der Hamburg Media School aus.
Gespräch mit Niki Stein
Der "Tatort" erzählt von einem Vater-Sohn-Drama, das tief in der deutschen Vergangenheit wurzelt. Führt das Verdrängen der Vergangenheit zu einer Spirale aus Radikalisierung und Gewalt?
Zumindest führt ein Nicht-Aufarbeiten von Gewalt zu Schuldkomplexen und im schlimmsten Fall zu Psychosen. Es gibt diesbezüglich viele Untersuchungen. Die erschütterndste für mich war, dass Kinder von Holocaust- Überlebenden den Schuldkomplex der Eltern übernommen haben, überlebt zu haben in den deutschen Mordmaschinen. Und auf den Seiten der Nachkommen der Täter steht die Frage im Raum: In wie weit gibt es eine genetische Veranlagung für das unfassbare Morden unserer Väter? Mich hat diese Schuldkette interessiert, von der wir erzählen: Heinrichs Vater war ein grauenvoller Kriegsverbrecher. Sein Sohn trifft aus Angst vor der oben angesprochenen eventuellen genetischen Disposition eine radikale Entscheidung, keine Kinder in die Welt zu setzen. Sein abgelehnter Sohn Johann entwickelt aus dieser Zurückweisung eine extreme Gläubigkeit, die ihn zu normalen Emotionen kaum noch fähig macht. Das prägt die Beziehung zu seiner von ihm abhängigen Frau, einer Spätaussiedlerin, die dankbar ist, aufgenommen worden zu sein. Sein Sohn Simon leidet unter dieser Unbedingtheit im Glauben. Am Schluss sind die Kinder die Opfer. Sie geben es weiter, und so weiter.
Was hat das mit der reformpädagogischen Bewegung zu tun?
Heinrich engagiert sich dort, um sich von seinem Kriegsverbrecher- Vater abzugrenzen. Kinder in freier Selbstbestimmung zu erziehen, statt sie zu willigen Vollstreckern einer menschenverachtenden Ideologie heranzubilden, wie das in der Hitlerjugend geschah, ist ja erst mal ein guter Gedanke. Aber er überzieht es. Er zwingt die Kinder zu einer Freiheit, die die gar nicht wollen: Verzicht auf Fürsorge, elterliche Bindung, das Setzen von Grenzen, nach denen Kinder eher verlangen, als sich selbst zu finden. Das geht so weit, dass er sie zu einer fragwürdigen Libertinage in der Entwicklung ihrer Sexualität nötigt. Das erinnert natürlich an die Odenwaldschule etc. oder die dänische "Tvind"-Bewegung und deren Leiter Morgens Petersen, an dem wir uns orientiert haben. Letztlich agiert Heinrich genauso ideologisch wie sein Vater. Und Opfer sind wieder die Kinder, seine Pflegetochter Senta und ihr Freund, der "Indianer".
Und hier verweisen Sie auf die 68er-Generation?
Das Lebensmodell in der kleinen Gruppe um Heinrich hat schon gewiss Bezüge, ohne das verallgemeinern zu wollen. Gretchen Dutschke hat mal in einem Interview gesagt, diese ganzen Heroen der 68er-Bewegung, Langhans, Teufel, Kunzelmann, waren alle extreme Machos. Dieser Spruch "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" ging im Grunde immer auf Kosten der Frauen. Das wollte ich mit der Figur der wahnsinnig leidenden Inga, Heinrichs Frau, erzählen. Sie zwingt sich dazu, ihn mit anderen zu teilen, was sie gar nicht will. Erst als Heinrich dement wird, kann sie ihn ganz spießig besitzen, deshalb kämpft sie um ihn. Diese kleinen Ironismen und Widersprüche wollte ich herausarbeiten. Deswegen habe ich auch diese Rahmenhandlung gewählt, in der Borowski und Mila Insa verhören. Da offenbarten sich die Widersprüchlichkeit und die Verlogenheit dieser Modelle.
Was dann direkt zu dem Verdacht führt, dass es an Heinrichs Internat auch Missbrauchsfälle gab?
Der "Tatort" ist keine Abrechnung mit der Reformpädagogik. Dafür sorgt auch Borowski in den Film, der das differenziert betrachtet. Die komplette Befreiung mit der Möglichkeit, sich von den Eltern abzugrenzen, das war ja erst mal gut, und so sieht das Borowski zunächst auch. Er sagt, das ist gut, dass ihr so eine neue Pädagogik der alten Nazi-Ideologie entgegengesetzt habt. Aber ihr habt die Grenzen nicht kapiert.
Viele Menschen in diesem "Tatort" hätten ein Motiv für den Mord ...
Ja, aber es ist trotzdem ein "Tatort" ohne Täter, ein "Tatort", der nur Opfer kennt – auch wenn es natürlich einen Mord gibt. Es ist fast so ein Ibsen-Stoff: Alle Figuren sind verhangen, schleppen eine Lebenslüge mit sich herum, wollen das Gute. Aber den Weg zu ihrem Leben verstellen sie sich selbst.
Wo ist der Bezug zur Gegenwart?
In der Beziehung zwischen den Figuren gibt es nur Radikalität, aber es gibt keinen Versuch des Ausgleichs, des Gesprächs. Diese Selbstgerechtigkeit ist enorm. Das fand ich interessant, denn wir leben ja auch in Zeiten, wo wir uns nicht mehr gegenseitig zuhören. Die Verbohrtheit nimmt zu und Toleranz gilt als lästig. Diese Stimmung findet sich im Film wieder.
Wie entsteht die Spannung?
Da ist natürlich vor allem diese bedrückende Stimmung im Pfarrhaus, für die wir einen filmischen Ausdruck gesucht haben. Das ist auch eine Reminiszenz an Filme von Carl Theodor Dreyer oder Ingmar Bergmann; die weißen Wände in der Kirche, die ganz bewusst das Nackte und Brutale zeigen. Gleichzeitig haben wir eine märchenhafte Symbolik gesucht, der Indianer, der Hund im Wald, das Segelschiff, das sind Bilder, die der kindlichen Fantasie entspringen. Und im Grunde ist Borowski der Zuschauer. Er fragt sich, was diese teilweise märchenhaften, teilweise verstockten Personen verbindet. Die Spannung entsteht durch die Neugierde auf eine Welt, die man so nicht kennt und die man dechiffrieren will. Natürlich spielt dabei auch die Angst um den Jungen eine Rolle.
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